Max Nettlau: Geschichte der Anarchie (Werkausgabe)

Die von dem Österreicher Max Nettlau (1865-1944) verfasste „Geschichte der Anarchie“ gilt unbestritten als das wichtigste und umfassendste Werk über die Ideengeschichte des klassischen Anarchismus. Mittlerweile ist der zweite Band – „Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin“ – in einer historisch-kritischen Werkedition beim Potsdamer Libertad Verlag erschienen. Der Band umfasst die Epoche von 1859-1880, in der die letzten Lebensjahre von Proudhon, die Pariser Commune, der kollektivistische Anarchismus von Michael Bakunin und die „Weiterentwicklung“ hin zum kommunistischen Anarchismus von Elisée Reclus und Pjotr Kropotkin fallen, d.h. der Anarchismus eine Hochphase erlebte.

Von seiner akademischen Ausbildung her war Nettlau zwar Sprachwissenschaftler (mit dem Schwerpunkt auf keltischen Sprachen), aber das hinderte ihn nicht daran, jenes auf sieben Bände angelegte Werk ab 1924 zu verfassen. Zu Lebzeiten erschienen lediglich zwischen 1925 und 1931 die ersten drei Bände; der vierte Band war für den Herbst 1933 geplant und konnte auf Grund der politischen Begleitumstände nicht erscheinen. Posthum erschienen Mitte der 1980er Jahre noch die Bände vier und fünf. Die letzten beiden Bände sollen im Rahmen dieser Werkausgabe erstmalig publiziert werden. Auch neuere historische Forschungen zur Geschichte des Anarchismus wie die von George Woodcock (Anarchism, 1962) oder Peter Marshall (Demanding the Impossible, 1991) berufen sich auf die Pionierleistung von Nettlau.

Als Materialgrundlage griff Max Nettlau auf sein umfangreiches Privatarchiv zurück, welches ihm bereits für die 1897 erstmalig publizierte Bibliographie de l‘Anarchie (Brüssel 1897) sowie deren faktischen Ergänzungband Contribucion a la bibliografia anarquista de la America Latina hasta 1914 (Buenos Aires 1927) bildeten. Es beruhte auf jahrzehntelanger Sammelleidenschaft, die laut dem Herausgeber Jochen Schmück von Victor Adler angestossen wurde, und war dank seiner umfangreichen internationalen Kontakte auch sehr reich bestückt mit Publikationen sowohl aus Europa als auch aus den USA. Nach eigenen Angaben bestand Nettlaus Sammlung bereits 1920 aus 3.200 anarchistischen Büchern und Broschüren, 1.200 anarchistischen Zeitschriften sowie mehreren tausend Sozialistika.

Neben jener Geschichte tat sich Nettlau als Biograph bekannter Persönlichkeiten des Anarchismus hervor. Er verfasste Biographien von Michael Bakunin, Errico Malatesta und Elisée Reclus, die teilweise immer noch als Standardwerke gelten. Max Nettlau kann in Bezug auf seine Geschichte der Anarchie und deren Vorarbeiten sowie seiner biographischen Texte als Beginn der Anarchismusforschung gesehen werden. Es ist bis heute eine sehr nützliche Ressource für die Erforschung der Ideengeschichte des klassischen Anarchismus. Für die Zeit bis 1844 dürfte es bis heute die umfangreichste und detaillierteste Darstellung der Ideengeschichte des Anarchismus sein; für die späteren Jahre bildet sein Werk immer noch eine grundlegende Ressource.

Für die hier vorliegende Werkausgabe wurde die Originalpaginierung beibehalten. Neben der Printausgabe stellt der Verlag das Werk auch als Onlineexemplar kostenlos zur Verfügung. Für Käufer der Printausgabe biete die Onlineedition allerdings eine Reihe weiterer hilfreicher Funktionen – darunter unter anderem einer Volltextsuche, freie Verschlagwortung und Kommentierungsfunktion.Weiterhin verfügt die Ausgabe über ein Namens- und Periodikaregister.

Der Verlag hat die Veröffentlichung vom dritten Band der Geschichte der Anarchie bereits für den Herbst 2021 angekündigt.

Maurice Schuhmann

Max Nettlau: Geschichte der Anarchie, Band 2: Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880 (= Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte). Herausgegeben und mit editorischen Notizzen von Jochen Schmück versehen, Libertad Verlag Potsdam 2020, 344 Seiten, Preis: 38 Euro, ISBN: 978-3-922226-30-7. Website: https://geschichte-der-anarchie.de.