Das wissenschaftliche, weit über die Disziplin der Philosophie herausreichende Interesse für Friedrich Nietzsche ist nach wie vor ungebrochen. Selbst wenn es noch keine Lehrstühle für die Erforschung seines Zarathustras gibt, wie er einst prophezeite, ist sein Werk immer noch der Gegenstand von mannigfachen Untersuchungen. Nietzsches Werk reizt und verwirrt immer noch gleichermassen. Die Verwirrung beruht auf dem Spiel der Masken, hinter denen sich Nietzsche verbirgt, und den in seinem Werk vorhandenen Paradoxien, mit denen er spielt.
Das Spiel mit den Masken und die damit einhergehende Auffassung Nietzsches, dass er als Subjekt nicht ein „individuum“, sondern ein „dividuum“ oder „Vielfaches“ sei, bilden die Ausgangsbasis von Roberto Sanchiño Martínez’ hier vorgelegten Dissertation aus dem Bereich der Geschichts- und Kulturwissenschaften. Die Problematik dessen bringt er selbst in den folgenden Worten auf den Punkt: „In Nietzsches Werk lässt sich daher eine Spannung zwischen Subjekt-Vielheit und Wille zur Autor-Einheit, zwischen einer dividualistischen Subjekt-Konzeption und einer selbstbezüglichen Egozentrität der Autorschaft und des Selbst, zwischen einer Subjekt-Deflation (und sogar Subjekt-Destruktion) und einer Vorstellung von Grandiosität und Einzigartigkeit feststellen, die das eigene schriftstellerische und philosophische Ich betreffen“ (12f). Eine zentrale Funktion nimmt für ihn der Begriff der „Egozentrität“ ein, den er von Ernst Tugendhat („Egozentrität und Mystik“) übernimmt. Unter jenem Gesichtswinkel untersucht er sehr gewissentlich das Werk Nietzsches – unter Einbeziehung der posthum publizierten Texte, nachgelassener Notizen und Briefwechseln. Einen Schwerpunkt legt er dabei im zweiten Teil auf den autobiographischen Text Nietzsches – „Ecce Homo“, den der Autor vor dem Hintergrund seines eigenen Interesses für Religionsforschung auch in jenem, von Nietzsche in diesem Kontext genutzten Kanon von religiösen Metaphern liest. Generell bewegt sich seine Studie – wie er selbst schreibt – „an der Schnittstelle von Philosophie, Literatur und Religionswissenschaft“ (17). Dabei unternimmt er auch einen sehr lesenswerten Exkurs zu Nietzsches Krankengeschichte, die häufig zu einer Vernachlässigung seiner späten Werke durch die Nietzscheforschung führt, und bezieht diesen in seine Überlegungen mit ein.
Das implizite in seinem Werk mitschwingende Vorhaben von Martinez ist es, aus der Zusammenführung eines literatur- und eines religionswissenschaftlichen Zugangs eine neue Perspektive auf Nietzsche und sein Werk zu entwickeln. Dies scheint mir, nur bedingt zu gelingen bzw. fehlt mir hierfür eine nähere Auseinandersetzung mit den Grenzen der bereits diskutierten religionswissenschaftlichen Zugängen zu Nietzsches Werk. Ebenso eine nähere Erläuterung dessen, was diesen Ansatz konkret auszeichnet.
Nichts destotrotz biete diese Arbeit – gerade was die Auseinandersetzung mit „Ecce Homo“ angeht – einige neue und diskussionswürdige Ansätze.
Maurice Schuhmann
Roberto Sanchiño Martínez : »Aufzeichnungen eines Vielfachen«. Zu Friedrich Nietzsches Poetologie des Selbst, transcript Verlag Bileefeld 2013, 366 S., Preis : 35,80 Euro, ISBN : 978-3-8376-2146-4.