CoverEin Indizienprozess gegen die allgemeine Ansicht

Im Pahl-Rugenstein-Verlag ist ein Buch von einiger Wichtigkeit erschienen. „Die Todesnacht von Stammheim“, Autor: Helge Lehmann, ist eine neuerliche Untersuchung der Indizien um den Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe und die fast tödlichen Verletzungen Irmgard Möllers. Aber es ist ein Untersuchung von ausgesprochener Tiefe.

Auf Veranlassung des damaligen Bonner Krisenstabes verschickte die Deutsche Presseagentur am 18. Oktober 1977, um 8.53 Uhr folgende Eilmeldung: »baader und ensslin haben selbstmord begangen.«
Diese Mitteilung über den Tod von Häftlingen aus der RAF im Hochsicherheitsbereich der JVA Stuttgart-Stammheim legte noch vor Beginn der kriminaltechnischen und gerichtsmedizinischen Ermittlungen die Richtung fest, der die Ermittler und die meisten Medien folgten. Der »kollektive Selbstmord der Häftlinge« scheint demnach bis heute die in Stein gemeißelte Wahrheit über die damaligen Ereignisse zu sein.

Mir ist kein anderes Buch bekannt, welches so akkribisch Fakten auflistet und auf ihren Sinngehalt prüft. Die dabei zutage tretenden Ungereimtheiten sind von erschütterndem Umfang. Die unzureichende, in vielen Fällen schlampigen Untersuchungen die von Gerichtsmedizin und den beteiligten Kriminalämtern offenbar – folgt man dem Buche – angestellt wurden, werfen Fragen auf, die nicht in erster Linie von kriminologischem, sondern von politischem Interesse sind.

Gleichwohl – und das ist die Stärke des Buches – wird hier nicht aus einem vornehmlich politischem Blickwinkel argumentiert, sondern an dem entlang, was von staatlichen Stellen als Fakten zugänglich gemacht wurde.

Helge Lehmann hat sich jede erdenkliche Mühe gemacht, um diese Fakten dahingehend zu überprüfen, ob sie nach menschlichem Ermessen zutreffen können. Und daraus ergeben sich interessante Fragen: Weshalb waren auf den Pistolen, mit denen sich Baader und Raspe erschossen, keine Fingerabdrücke? Weshalb gibt es Probleme mit den Schmauchspuren im Falle von Baader? Warum würden bei der Ermittlung der Todeszeitpunkte laut Aktenlage nicht die Untersuchungen durchgeführt die sonst doch üblich sind? Warum wurde der Stuhl, auf den Gudrun Ensslin möglicherweise gestiegen war, um sich zu erhängen nicht untersucht? Weshalb fehlen Fingerabdrücke auch am Messer, mit dem sich Irmgard Möller zu erstechen versucht haben soll?

Lehmann verfährt dabei wie ein Archäologe: Mit feinem Werkzeug und im Selbstversuch, will er den Fragen beikommen. Und wirft damit – ein Armutszeugnis für die Tatortuntersuchung – immer neue auf.

Ein ausgesprochenes Verdienst Lehmanns ist es, dabei niemals in Verschwörungstheorie abzugleichen. Seine Darlegungen haben kein festgelegtes Resultat, sie bleiben offen, aber sie sind – auch das ein Verdienst – geeignet Misstrauen zu schaffen.

Dabei ist Lehmann, wenn ich ihn auf der Lesung in Berlin richtig verstanden habe, niemand der aus der linken politischen Arbeit kommt. Ihn hat, wenn man so will: getriggert, was er im Urlaub in Stefan Aust‘ „Der Baader-Meinhof-Komplex“ las. Die gute Voraussetzung, nicht mit einer vorgefassten Meinung an die Sache heranzugehen, hat er mit Bravour erfüllt. Es wäre jetzt an der Zeit, alle Akten zu diesem deutschen Fall offenzulegen und damit der Wahrheit ein Stück näher zu kommen.

Auf jeden Fall ein Buch, dass sich zu lesen lohnt: Faktenreich und gut geschrieben.
Dem Buch liegt eine Dokumenten-CD bei

Website zum Buch
Inhaltesverzeichnis Buch und CD (PDF)
Pahl-Rugenstein-Verlag

Wikipedia zur Todesnacht von Stammheim