Ein_lebendiger_tagEin Tag, eine Stadt, viele Tode

Diese Rezension ist eine ganz unmögliche, deshalb ist sie mir wichtig. Ich habe wenig gemein, mit dem, der dieses Buch geschrieben hat: Er war Sprecher der Jungen Union, ich bin Kommunist; er war Pressesprecher eines Ministeriums der gerade noch existierenden DDR unter Lothar de Maiziere und natürlich ist sein Blick auf die DDR trotz meiner grundlegenden Kritik an der Politik der SED ein vollständig anderer, als der meine. Und doch: Es gibt auch Verbindendes zwischen Holger Doetsch und mir. Linien, die sich auf Interpretation stützen: Dass ich ihn für einen Dandy halte. Man darf da nichts verwechseln! Ein Dandy ist kein Snob, während der letztere ganz ohne Nobility in einem ganz schlechten Sinne egozentrisch und egoistisch ist, ist es der Dandy auf eine Art, die ihm notwendig erscheint, um nicht in den Sumpf des Üblichen zu geraten. Er will sich nicht erhöhen – er will nicht untergehen. Und ich erkenne in den Sätzen, die Holger Doetsch zu Papier gebracht hat, auch den Kampf um die eigene Identität. Einer Bewahrung des Ichs gegen den Tod von Geliebten und geliebten Menschen, gegen Not und Leid.

Feinfühlig, gerade dort, wo er drastisch – viel zu wenig noch, meiner Meinung nach – diese Stadt Berlin schildert, den Dreck, der die Patina dieses Menschenortes bildet; wo er über den Tod sinniert, wie einer, dem die Sense des Endlichen ständig in das Feld des Lebens fährt. Da ist er mir ganz nah, trotz allem Abstand, der zwischen uns in der Sicht auf die Welt ist oder sein mag.

„Ein lebendiger Tag“ ist, anders, als es uns der Umschlag des Buches weißmachen will, gar keine ‚Erzählung‘. Dieses Buch ist ein dreifacher Reiseführer, eine Odysee meinethalben auch. Doetsch führt uns durch Berlin, schildert Plätze und in ihnen wohnende Erinnerungen, der Autor läßt uns mit seinen Augen auf seine Vergangenheit und seine Gegenwart sehen, manchmal gelingt es ihm (und das ist viel), die Seele des Lesers einzutauchen in die Bedrückungen, die ihm, dem Autor, durch das Leben aufgeladen worden sind und er weigert sich, die Last abzuschütteln, zu vergessen. Er zeichnet das Bild eines Mannes, der nicht fortlaufen will, vor dem was war und also das was ist geformt hat. Dieses Buch also ist ein ehrliches Buch, bis zum fühlbaren Schmerz beim Schreiben.

Schwulenbars (Holger Doetsch ist homosexuell) und immer wieder Erinnerungen an den schnellen Sex, an große aber vergängliche Lieben auch, Erinnerungen an Verlorene also – das ist die Basis des Buches. Das Haus, welches Doetsch darauf errichtet aber ist aus Liebe gemacht und dem Wunsch, sie nach dem Tod seines Geliebten, wieder aufzubauen, mächtig, unvergänglich. Hier hat ein Mensch geschrieben, der sich wichtig genug ist, um zu leiden.

Und gleichwohl formuliert Holger Doetsch kein Ziel. Er berichtet – nicht mehr und nicht weniger – eindringlich, aber ohne moralischen Zeigefinger, ohne eine Schlußmoral zu formulieren. Natürlich ist so ein Buch auch eine Selbstüberhöhungen. Na und? Man darf das, man muss das dürfen. Man hat ein Anrecht darauf, darauf, auf dem eigenen Leid zu stehen, wie auf einem Hügel und von dort aus aufs Lebensland zu schauen.

Vierundzwanzig Stunden Gang durch Berlin, durch das Leben Holger Doetschs, durch Verlust und Liebe, durch Armut und Not, durch Überfluß und Verdruß.

Das Buch hätte allerdings ein härteres Lektorat gebraucht! Schon deshalb, weil es ein verstörendes, ein gutes Buch ist, das die Leckagen nicht verdient hat, die hier und dort durch die fehlende Lektoratsarbeit auftreten.

 

Holger Doetsch – Ein lebendiger Tag, ISBN 978-3-865576-226-4 – 15,00 Euro

Erhältlich u.a. über  Männerschwarm