Mir geht es nicht anders, als es mir immer schon ging. Ja, natürlich. Die Verschleißerscheinungen des Körpers sind nicht zu leugnen. Ich bin kein niedlicher Junge von dreizehn, sechzehn, achtzehn, zwanzig mehr. Ich habe einen Bauch bekommen und das Haar verloren. Der Bechterew hat mich ein wenig steif im Kreuz gemacht und gebogen. Aber er ist auch der Einzige, der mich je gebogen hat, ohne dass ich gebogen werden wollte, der mich gegen meinen Willen gebeugt hat. Das also konzediert, bin ich der, der ich mit dreizehn, sechzehn, achtzehn, zwanzig war.
Ein mangelndes Begreifen des zeitlichen Abstandes, ein nur intellektuelles Begreifen dieses Abstandes gebe ich gern zu. Natürlich weiß ich, dass die Wagnisse, die ich, gerade dazu in den Stand gesetzt bei manchen, erlebt habe, nun schon fast fünfzig Jahre zurückliegen mögen. War die große Demo in Brokdorf nicht doch letzte Woche. Als ich im Käfer von Uwe mitfuhr. Kalt war es. Geregnet hat es. Die Polizei hat mich verdroschen. Bin ich nicht erst gestern vom S-Bahnhof Sülldorf zu Susis Elternhaus gestiefelt in strömendem Regen?
Ich bedauer nicht mein Alter. Ich wundere mich darüber, dass ich bei anderen eine Art inneren Alterungsprozess sehe. Einen Alterungsprozess, der sie vorsichtig macht, zögerlich, dem dient, was leichtfertig „vernünftig“ genannt wird, „einsichtig“ oder gar, welch ein Unsinn, den Begriff an das Fortschreiten der Lebenszeit zu binden, „weise“. Ich bin so weise, wie ich immer war. Das einzige, was ich besser kann nun, als ich es konnte damals, gestern, vor zehn Jahren, vor 50, ist mit meinen Phantasien zu leben, mit den Vorstellungen von Glück und Leid, von Blut, Sperma, goldenen Sonnentagen, Vollmondnächten, huschenden Schatten in alten Gebäuden.
Ist es bei anderen auch so? Und ist das von Belang? Ist es bei anderen auch so, dass alles eigentlich gestern stattfand, egal wann es war, und das der, oder die, die oder der es erlebte nur einen Monat, ein Jahr entfernt ist von dem, der heute daran denkt? Ich habe keine Ahnung. Ich verlange auch nicht nach einem Wissen darum. Mir ist es recht, wenn es anderen so geht wie mir oder ganz anders. Ich freue mich, dass es mir so geht, wie es mir mit mir geht.
Schließe ich die Augen, bin ich in meinem Raumzeitkontinuum. Wobei natürlich Augenschließen einen inneren Vorgang beschreibt. Die Lider muss ich deshalb nicht senken. In meinem Raumzeitkontinuum kann ich sofort B. in die Arme nehmen oder wieder vor den Bullen aus den besetzten Häusern beim Schlump fliehen. Ich kann vor H. auf den Knien liegen oder S. weinen sehen. Alles war gerade eben erst und ich sehe mich, sehe ich mich in mir, sowieso immer in einem unbestimmbaren Alter, als eine Figur, die alles repräsentiert, das Jahr 1968 ebenso, wie das Jahr 2018.
Das Boshafte meines Raumzeitkontinuums ist, dass sich die Vorstellung nur in mir materialisiert und nicht um mich herum. Für einen wie mich, der seine Träume immer auch in die Realität geworfen hat, ist das ein Manko von erheblicher Infamie. Wie schön wäre es, man könne an die Orte, zu den Menschen und Zeiten zurück reisen? Ganz ohne die zwangsweise auftretenden Paradoxien. Und alles, wirklich alles, wäre ganz und gänzlich existent: Die Orte, die Umstände, die Menschen. Und man selbst wüsste um alle die Zeiten, ja, hätte all das Wissen zur Verfügung, dass man angesammelt hat im Laufe der Jahre und vergessen schon vielleicht.
Ich würde mich trauen, Dinge zu tun mit größerer Intensität, mit mehr Mut zum Risiko. Denn das hat natürlich sich zugetragen: dass das Wissen sich vergrößert hat und die Annahmen, die in den Umfassungsbereich des Unwissens fallen, verkleinert.
Nie wird es möglich sein, das reale Reisen in die eigene Vergangenheit zu erleben. Zeitreisen gibt es nicht. Aber vielleicht wird uns die Technologie irgendwann virtuelle, anfassbare, interagierende Welten bescheren. So als wäre das Theaterstück über die Reise in die Vergangenheit ganz real. Ich würde sofort mitspielen.