Eine Erinnerung

Am besten gebe ich es direkt zu: Ich bin so voreingenommen, wie man es nur sein kann, denn ich liebe die Geschichten von Gunter Gerlach. Und nicht erst seit heute, sondern seit bald vierzig Jahren. Und natürlich will ich etwas Werbung machen, für Gunters jetzt letztes Buch, die Erzählsammlung »Ein falsches Wort und du bist tot«, die Sie, verdammt nochmal, lesen sollten.

Aber wie hat das alles bloß angefangen? Wenn ich zurückdenke, dann sehe ich uns gemeinsam an unseren literarischen Abenden in den 80ger im Hamburger Univiertel, in der Schlüterstraße, wechselseitig Geschichten vorlesend, meist neue Texte, die wir ausprobieren wollten, für die wir eine erste Reaktion brauchten, die Meinung anderer hören wollten, natürlich auch Kritik, die weiterhelfen konnte.

Die Krimi-Autorin Susanne Thommes lud dazu ein- bis zweimal im Monat in ihre Dachwohnung ein. Wir waren fast alle noch recht jung, in unseren Dreißigern, hatten gerade unsere ersten Bücher veröffentlicht oder hofften darauf. Gunter Gerlach war neun Jahre älter als ich und hatte schon mehrere Romane veröffentlich. 1984 »Das Katzenkreuz«, 1986 »Tazzans Tod« und 1988 »Katastrophe wunderbar«. Vermutlich deshalb gewann Gunters Stimme in unserem kleinen Kreis schnell an Gewicht. Mit ihm waren einige andere Autoren in unsere Gruppe gekommen und geblieben, die mich, mal mehr mal weniger, bis heute begleiten. Das waren Lou A. Probsthayn, Reimer Boy Eilers und Nicolas Nowak, mit denen zusammen er 1986 die Gruppe PENG gründete; ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen. Sie präsentierten sich mit Lesungen im öffentlichen Raum Hamburgs während der Jahre 1986 bis 1995 wohl über dreißigmal, angefangen mit einer Aktion, bei der die Autoren während ihrer Lesung in des Bäumen des Alsterparks saßen.

PENG war nicht die erste Autorenvereinigung, die Gunter Gerlach ins Leben gerufen hatte. Er besaß viel Charme, ein unvergleichliches Lächeln und war mit seinem wachen Geist enorm umtriebig. Das alles kam unserer kleinen Gruppe unter dem Dach von Susanne Thommes sehr zugute. Es hatte uns vorher schon gegeben, aber als Gunter und seine Mitautoren bei uns auftauchten, da begann unsere literarisch fruchtbarste Zeit.

Ich erinnere so viel aus diesen Jahren, da gibt es Sätze und ganze Geschichten, die mir nie wieder aus dem Kopf gegangen sind. So etwa Charlotte Ueckerts wunderbare Verszeile »Nur ich bin für die Jahreszeit zu kühl«, Reimer Boy Eilers’ Schilderungen von Helgoland oder auch Lou A. Probsthayns Geschichte vom Rattenkönig, von der ich oft gedacht habe, ich müsste sie für mich nochmal neu schreiben. Natürlich ganz anders und … ach, egal, sie ließ mich halt über Jahre nicht mehr los.

Und ich erinnere mich an die letzten Sätze, die Gunter an mich richtete. Es war der letzte Abend, an dem ich in der Gruppe dabei war. Ein Abend Ende 1988, ich hatte gerade für meinen zweiten Roman »Kinder der Bosheit« den Preis der Deutschen Akademie Rom, Villa Massimo, erhalten und würde für ein Jahr Hamburg verlassen und in Rom leben. So war es vorgesehen. Tatsächlich kam ich nie nach Hamburg zurück.

Ich las eine Geschichte, deren Wirkung darauf beruhte, dass das, um was es ging, nur in den Köpfen der Zuhörer bzw. Leser stattfand. In der realen Handlung der Story passierte nichts von dem, was die Zuhörer ständig erwarteten. Das schuf eine große Spannung. Die Zuhörer fühlten sich gewissermaßen ertappt, sie waren gezwungen zu begreifen, dass ich als Autor gewusst hatte, was sie denken würden und sie deshalb in ihren Erwartungen hatte manipulieren können.

Einige schüttelten sich nach der Lesung regelrecht, es war ihnen kalt über den Rücken gelaufen. Gunter Gerlach sah mich lange an und sagte dann. »Das ist unglaublich. Es geschieht ja gar nichts. Bei mir hätte das alles real stattgefunden. Ich hätte restlos alles erzählt.«

Damals habe ich nur gedacht, das wäre aber für meine Geschichte falsch gewesen. Heute, und nachdem ich sein neues und wohl leider letztes Buch »Ein falsches Wort und du bist tot« gelesen habe, ist mir klar geworden, dass seine Methode auf ihre Weise ebenso extrem ist wie meine. Gunter Gerlach geht in seinen Geschichten derart an die Grenzen, entwickelt seine Stoff so weit, dass die geschilderten Ereignisse ins Groteske kippen und so den Leser mit der zwangsläufigen Erkenntnis des Irrsinns, in dem wir als Realität leben, zurücklassen.

Das überzeugendste Beispiel dafür findet der Leser vermutlich direkt im ersten der 33 Texte dieses kurzweiligen Bandes, der die besten Kurzgeschichten aus dem Werk Gunter Gerlachs versammelt. »Sauber bleiben« heißt die Geschichte. Für mich, der ich lange in Stuttgart gelebt habe und deshalb den Kehrwochen-Wahn der Schwaben kenne, wäre das Thema vermutlich nur Stoff für eine Anekdote gewesen. Gunter Gerlach hingegen erfasst die Problematik, die darin liegt, in ihrer ganzen Tiefe und entwickelt daraus mit knappen Strichen das Zukunftsbild einer Sauberkeits-Diktatur, eines Staates, der die Bevölkerung bis zum letzten Staubkorn oben auf dem Türrahmen im Griff hat und seiner rigorosen Kontrolle unterwirft.

Viele Geschichten in diesem Buch entpuppen sich in dieser Weise, trocken und lakonisch erzählt, als derart ins Groteske gekippte Zukunftsbilder, als schwarze Utopien, an denen George Orwell seine Freude hätte haben können. Allerdings nur, wenn er mehr Humor besessen hätte. Dystopien, die ja eine erschreckende bzw. nicht wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklung darstellen, sind bekanntlich fast immer auch erschreckend humorlos. Das ist Gunter Gerlach völlig fremd, ich bin überzeugt, er wäre beleidigt gewesen, hätte man von ihm eine Geschichte verlangt, über die man nicht auch lauthals lachen könnte. Seine Geschichten schaffen das, weil sie von völlig loyalen und konform lebenden Antihelden handeln. Jeder von Gerlachs Protagonisten könnte wie die Hauptfigur in seiner Story »Paarweise« sagen: »Jeder findet das Gesetz gut. Ich auch. Jeder sieht ein, dass es eine gute Sache ist ….« Wenn, ja wenn sich dann nicht herausstellte, dass diese angepassten Helden gerade an ihrer Angepasstheit scheitern.

Und so gelangt Gunter Gerlach mit seinen Geschichte am Ende doch an den Ort, an dem ich 1988 mit meiner Geschichte war. Denn nachdem wir über seine Stories, in denen alles bis in die absurdesten Konsequenzen ausformuliert ist, gelacht haben, bleibt etwas übrig, was er nicht sagt, etwas, das er den Gedanken, den Schlussfolgerungen der Leser überlässt. So will ich dann doch nicht leben, könnten diese Gedanken lauten. Aber Gunter hätte mit seinem großen Lachen sicher abgestritten, dass er pädagogische Absichten dieser Art hatte. Ach, lesen Sie sein Buch und machen Sie sich Ihre eigenen Gedanken. Das wäre ihm am liebsten gewesen.

Zum Schluss: Es klingt vielleicht alles wie eine Art Nachruf. Das ist halb richtig und halb falsch. Aber ich bin auch deshalb froh, dass es dieses Buch gibt, weil der oben erwähnte Lou A. Probsthayn seinem Freund Gunter Gerlach mit diesem Band ein »Lesmal« gestiftet hat. Kein »Denkmal«, das wäre Gunter zu protzig erschienen, obwohl er im Denken einer der Besten war, ein »Lesmal«, wofür es eine Crowdfunding-Aktion brauchte, damit der Verlag das Buch auf den Weg bringen konnte. Der Anlass dafür liegt in dem Umstand, dass Gunter Gerlach dement geworden ist. Da, wo zuvor so viel Witz und so viele Ideen sprühten, verwirren sich nun die Buchstaben und die Geschichten verschwinden in einem schwarzen Loch, seine eigene ebenfalls. Das macht mich sehr traurig. Darum, nochmals mein Aufruf, lesen Sie Gunter Gerlachs Geschichten und lassen Sie uns gemeinsam mit ihm lachen.

 

Gunter Gerlach: Ein falsches Wort und du bist tot, Erzählungen, Literatur Quickie Verlag, Hamburg, 215 Seiten, geb. mit Lesebändchen, ISBN 978-3-945453-76-6, 19,00 Euro