Jetzt, nach dem Abklingen dessen, was manche aus Nachlässigkeit, andere aus Boshaftigkeit «Flüchtingskrise» benennen, scheint es höchste Zeit, ein Buch zu würdigen, das eben jene Zeit als Bodenplatte nimmt, um darauf ein Gebäude zu errichten, das also mehr ist als nur tagesaktuelle Lektüre.
Jenny Erpenbeck hat mit ihrem Buch «Gehen, ging, gegangen» einen ‚Germinal‘ der zu uns Geflohenen geschaffen, und das Buch ist ohne Frage auf dem Höhenzug der Weltliteratur anzusiedeln.
Ich will nicht das nächste, inzwischen überflüssige Expert schreiben. Sehen Sie auf wikipedia nach, wenn Sie den Inhalt erzählt haben wollen oder lesen Sie eine der vielen Rezensionen. Aber hüten Sie sich, den Quintessenzen der Rezensionen zu vertrauen. Die meisten sind – meiner Meinung nach – völlig falsch. Ich habe beim Lesen der Kritiken ein starkes Bedauern über die offenbar fest auf der Seelenhaut verkrustete Mißgunst, die eingewachsenen Ressentiments und die, manchmal offen getragene, Fremdenfeindlichkeit verspürt, die den einen Kollegen oder die andere Kollegin offenbar Dinge schreiben ließ, die sich auf einem humanistischen Tätigkeitsfeld nicht gehören.
Jenny Erpenbecks Ankerfigur ist der emeritierte Professor für Altphilologie Richard, der über die Proteste afrikanischer Flüchtlinge auf dem Oranienplatz in Berlin in die Nähe dieser Menschen gerät, deren Geschichten er nur nach und nach, mit steigender Kurve versteht. Er ist eine genaue, wirklichkeitsnahe Darstellung vieler Menschen aus dem Bildungsbürgertum. Wer diese gebildeten, ihre römischen Dichter und griechischen Philosophen kennenden Menschen erlebt in Situationen, in denen sich die theoretische Erfassung der sichtbaren Welt in die praktische Berühung durch ebendiese Welt wandelt, weiß: Hier hat Erpenbeck nichts überzeichnet, nicht karikiert, nichts veralbert. Nein, dieses Stauen, dieses Feststellen der weltlichen Unschärferelation zwischen der Annahme, dem Diskursergebnis und der Realität ist ebenso realistisch geschildert, wie der Emeritus im Buch.
Die Verlorenheit der Flüchtlinge, ihr Treiben in einem Meer aus Willkür, Unwillkommensein, Erinnerungen, Selbstverpflichtungen. Ihre Konfrontation mit der ratlosen und wissensfernen Hilfsbereitschaft: All das schildert Jenny Erpenbeck ergreifend, in einer Sprache, die sich aller Allüren und jeder Manieriertheit enthält und die dadurch so eindringlich wird, wie es die Sprache Émile Zolas ist im Germinal, die von Döblin im Alexanderplatz oder etwa die Philip Roths in Exit Ghost.
Diese Reduktion, die zugleich eine Erhöhung der Sprache ist, macht es möglich, das hiesige Leben der Flüchtlinge als das zu schildern, was es ist: Als täglich erneute Herabsetzung, als stete und stetige Entfernung aus dem bundesdeutschen Durchschnittalltag. Dass auch die Ankerfigur dabei in seiner ratlosen und bemühten Art so agiert, ist der Wahrheit geschuldet. Er, der Alt-Philologe überhöht seine neuen Bekannten, in dem er sie mit den ihm bekannten Figuren der Antike in Beziehung setzt. Er ordnet sie also gleichsam in seinen Wissenshorizont, in sein durch Wissen limitiertes Weltbild ein.
Ich bin vordem recht viel, auch beruflich, gereist. Ich war u.a. in Singapur, Indonesien und Israel und natürlich in vielen europäischen Ländern. Meine Lebenserfahrung ist, dass Menschen im Wesentlichen überall gleich sein. Die oft behauptete Kulturdifferenz gibt es allenfalls im ganz engen Kreis der Familie, in der Ausübung religiöser Handlungen. Ansonsten sind der Unterschiede nicht viele. Viel mehr sind Unterschiedlichkeiten aus den Lebensumständen in einer Gemeinschaft spürbar, aber auch die Differenz zwischen Städtern und Bewohnern ländlicher Gebiete verliert sich mit dem weiteren Vordringen von Informationstechnologie. Und doch steht, wer das nicht wie ich und viele andere erlebt hat dem Fremden fremd gegenüber, obwohl da vermutlich nicht mehr ist, als das ganz übliche Nichtkennen.
So geht es auch dem Professor, der eben keine Vorstellung von den Gemeinsamkeiten hat, aber auch keine vom Agieren der deutschen Behörden, keine Vorstellung von der Grausamkeit der Schicksale, der festsitzenden Angst, den mitgeschleppten Belastungen, den Albträumen und Trugbildern, ja auch des Wahnsinns, in den einige der Flüchtlinge durch die Umstände, die sie zur Flucht getrieben haben, aber auch durch die Flucht selbst, gestoßen worden sind.
Als die Zahl der Flüchtlinge wuchs und auch auf unserer beschaulichen Insel der Glückseligen hier am Main Flüchtlinge eintrafen, zu erst unbegleitete Jugendliche, dann Erwachsene und Familien, nahmen wir eine Familie aus Syrien in das kleine Literaturhaus auf, in dem ich und andere wohnen und sich der Kulturmaschinen-Verlag befindet. Sechs Personen: Die Eltern, zwei kleinere und zwei größere Söhne. Der Vater hatte, nach dem er aus Assads Folterkellern entkommen war zuerst die Flucht mit einem der jüngeren Kinder versucht. Das Kind brauchte dringend ärztliche Hilfe. Die Flucht aus Ägypten mißlang. Es flohen dann die älteren Söhne. Die Überfahrt wurde zum Höllentrip, den sie nur überlebten, weil sie das Wasser aus der Kühlanlage des Schiffes tranken, um nicht zu verdursten. Sie bekamen recht schnell Asyl und konnten dann die Familie nachholen. Weil Menschen mit Asylgestattung aber von niemandem mehr betreut werden, saßen sie nun allesamt auf der Straße. Das konnten wir nicht zulassen. Wir kannten die beiden großen Söhne ja. Also nahmen wir sie auf. In den wenigen Monaten, die sie hier wohnten, bis die schöne kleine Stadt eine Wohnung für die Familie fand, füllten sich zwei oder drei Aktenordner bis zum Rand mit Papieren. Oft die immer gleichen mit den immer gleichen Fragen. Ständig gab es Termine. Sie kamen damit vermutlich besser klar, als andere. Die Mutter war Gymnasiallehrerin in Homs. Es handelte sich also um syrisches Bildungsbürgertum. Und sie hatten eine gesicherte Bleibeperspektive.
Was aber ist mit all jenen, die bei jedem Gang aufs Amt befürchten müssen in Abschiebehaft zu kommen, was ist mit jenen, die durch Verwaltungsakte von Kindern und Ehepartnern getrennt worden sind? Und was ist mit jenen, die halbtot durch die Erlebnisse von Gewalt und Not dringend psychologisch betreut werden müssen, aber diese Betreuung nicht erhalten?
Jetzt wohnt bei uns ein junger Mann auf Afrika, der hier eine Lehre absolviert. Sein Freund aus gleichem Herkunftsland, den er erst auf der Flucht in Europa kennenlernte, spricht nicht viel über seine Erlebnisse. Er wurde in Lybien festgesetzt und in einen Container gesperrt. Sie waren fast dreißig Leute in der Stahlkiste. Irgendwann öffnete sich die Tür und jemand schoß in den Container. Der Junge überlebte unter den Leichen und konnte fliehen, da war er fünfzehn. Welche Last hängt an diese Menschen? Welche Traumata? Welche Dunkelheit umfängt sie übermächtig und undurchdringlich in manchem Moment?
Jenny Erpenbeck gelingt es auch solche Geschichten in den Ablauf ihres grandiosen Romans zu intergrieren. Ja, das ist eine große Literatur, die die Schriftstellerin da geschaffen hat. Ein Buch, dass mit seiner Sprache, seiner Verhaltenheit, eine Berliner Wirklichkeit schildert, in der alle Grausamkeit aus den Leben der Figuren und ihren Herkünften transportiert wird. Das Buch wird Ihnen, so hoffe ich, auf der Seele liegen.
Wir brauchen Bücher wie dieses, weil ich fest daran glaube, dass Literatur eben nicht nur unterhalten soll. Wir müssen die falschen Erzählungen, Zuschreibungen und Behauptungen der Neunziger und der Nuller Jahre von den Tischen wischen. Diese zynischen Ideenwelten von unpolitischer Kunst, diese Verweise darauf, dass Kunst und Literatur gar nichts zu wollen hätte, außer eben Kunst und Literatur zu sein. Au contraire mon cher. Kunst, die nur kann, aber nichts wollen soll verkommt zum Kunsthandhandwerk, zur Wanddekoration, zum Schmachtfetzen, zur Klamotte und zum Kitschroman. «Gehen, ging, gegangen» zeigt, dass große Literatur wollen kann und wollen soll.
Jenny Erpenbeck, Ging, gehen, gegangen, KNAUS, ISBN 978-3-8135-0370-8, 19,99