Ein wichtiger Beitrag zur Kapitalismuskritik
Anlässlich des 150. Geburtstages des zweifelhaften Ökonomen Silvio Gesell, dessen Ideen und Vorstellungen in Zeiten der zunehmenden ökonomischen Krise eine Renaissance erleben, hat der linke Journalist Peter Bierl seine über Jahre oder gar Jahrzehnte gesammelten Erkenntnisse über die Theorie Gesells und dessen rechter Anhängerschaft beim konkret Buchverlag publiziert. Nachdem er bereits mit „Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister“ (1998) ein Standardwerk geschrieben hat, was sich mit rechten Tendenzen in der Philosophie Rudolph Steiners auseinandersetzte, könnte dieses Buch ein weiteres werden. In der Einleitung schreibt er: „Das vorliegende Buch will einen Beitrag zur Orientierung leisten, indem es sich mit Ideen auseinandersetzt, die seit 200 Jahren verbreitet sind, eine Marktwirtschaft ohne die negativen Seiten des Kapitalismus wäre möglich. Im Zentrum steht die Freiwirtschaftslehre des Kaufmanns Silvio Gesell (1862-1930). Diese Bewegung existiert seit mehr als hundert Jahren und hat, obwohl zahlenmässig klein, in verschiedene politische Spektren ausgestrahlt und die suggerieren und Bewegungen beeinflusst“ (15).
Faktenreich, wenn auch streckenweise nicht ganz wissenschaftlich sauber analysiert, erhärtet die Arbeit die seit Jahren / Jahrzehnten in der linken Szenen diskutierten Vorwürfe gegenüber dem Ökonomen. Er bezeichnet ihn darüber hinaus aus seinem marxistischen Background heraus als einen Vordenker des rücksichtslosen „Manchester Kapitalismus“ (101). Peter Bierl vertritt die These, dass es sich bei Gesell um einen frauenfeindlichen, rassistischen, antisemitischen und sozialdarwinistischen Denker handele, dessen Werk Anknüpfungspunkte für rechtes Gedankengut offeriert. Im Gegensatz zu den meisten Gesell-Gegnern hat er sich glücklicherweise die Arbeit gemacht, Gesell zu lesen und auch den von ihm erhobenen Antisemitismusvorwurf auszudifferenzieren. Er beweist auf der einen Seite profunde Kenntnisse über den Forschungsgegenstand, rutscht aber leider wiederholt in polemische Plattitüden, nicht belegte Vorwürfe und gar in von ihm bekämpfte Verschwörungstheorien. „Anfang 1924 kritisierte Gesell die Rentenmark und forderte eine „Indexmark“, ohne zu würdigen, dass Reichsregierung und Reichsbank die schwindelerregende Inflation gestoppt hatten. Da mochten Rechthaberei und Enttäuschung mitschwingen, denn Gesell und seine Anhänger glaubten bis Anfang 1924, sie könnten als Krisengewinnler die politische Macht übernehmen“ (105)
Zeitweilig hat man das Gefühl, dass Bierl dieses Buch nicht zur Aufklärung geschrieben hat, sondern auch die Chance versucht zu nutzen, um seine generelle Anarchistenschelte zu verteilen. Diese findet sich vor allem in dem Kapitel über die frühsozialistischen Vorläufer Gesells wieder – und ist leider in manchen Hinsichten methodisch symptomatisch für seine Schwachstellen. So verweist er auf den „Cercle Proudhon“, aus dem die Action Française entstanden ist, um die Anknüpfungspunkte von Proudhon für rechtsextreme Bewegungen zu belegen – ohne zu hinterfragen, inwieweit diese Adoption auf einer Fehlinterpretation Proudhons beruhte. An manchen Stellen scheint bei ihm die Ideologie die wissenschaftliche Erkenntnis zu überblenden. So unterstellt er an einer Stelle, dass es Friedrich Nietzsche um die Gesunderhaltung der weissen Rasse ginge – und wirft einmal im verstaubten KP-deutsch mit dem Begriff kleinbürgerlich herum.
Wo er sich jedoch auf einer analytischen Ebene bewegt, bietet sein Werk einige grundlegende Fakten, die für die Urteilsbildung und kritische Auseinandersetzung mit der Theorie Gesells und seiner Schüler unabdingbar sind. Besonders in der Auseinandersetzung mit der ökonomischen Theorie weist er einige Mythen, die sich hartknäckig halten, nach und entzaubert diese. So thematisiert er u.a. den Wörgelmythos und Stam Scrips sowie kontextualisiert auch die Würdigung Keynes für Gesell. Ebenso hat er in der Darstellung des Antisemitismus und des Rassismus sehr gute Arbeit geleistet – auch wenn ich mich streckenweise eine stärkere, historische Einordnung dessen gewünscht hätte. Bezogen auf die Aspekte „Sozialdarwinismus“ und „Frauenfeindlichkeit“ scheint mir Peter Bierl zeitweilig über das Ziel hinauszuschiessen bzw. die Gedankenführung Gesells misszuverstehen.
Bei der Thematisierung der nationalsozialistischen Gesell-Rezeption vermisse ich auch die eine oder andere Position. So hat zwar Gottfried Feder, von „Brechung der Zinsknechtschaft“ geschwafelt, aber gleichzeitig hat er sich gegen Gesells Theorie ausgesprochen, was in diesem Kontext auch von Relevanz ist.
Trotz einiger Kritikpunkte ist dieses Buch fraglos ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kapitalismuskritik und der ökonomischen Lehre von Silvio Gesell, die sich u.a. in vielen modernen Tauschringen weltweit wiederfindet.
Peter Bierl: Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn. Kapitalismuskritik von rechts: Der Fall Silvio Gesell, herausgegeben von Friedrich Burschel, kvv konkret Hamburg 2012, ISBN: 978-3-930786-64-0, Preis: 24,80€, 252 S.. [ZUM BUCH]
Maurice Schuhmann