Lederhose und Hafenkittel

Vermutlich muss man nicht Anarchist sein, um mit fröhlicher Egozentrik durch sein Leben zu gehen, ob das ein gutes oder ein schweres sein mag, um seine Eigenheiten nicht als Bonseipark auf der Fensterbank zu pflegen, sondern als profunden Hain.

Oskar Maria Graf trug in New York mit Sturheit und völliger Selbstverständlichkeit bayrische Lederhosen. Er trug, als er, Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft übrigens erst, wieder nach Deutschland kam, jene Lederhosen, in denen er vor den Faschisten geflüchtet war. Er trug Lederhosen bei Lesungen auch in prachtvollen Sälen, und er trug die bajuwarischen Beinkleider beim Spazierengehen in New York und beim Flanieren übers Münchner Boulevard. Er organisierte literarische, deutschsprachige Stammtische in New York, und er war ein schlecht integrierter Ausländer dort, einer der mangelhaft Englisch sprach und die deutsche Gemeinde fast nie verließ. Zum Abschluß eines jeden Stammtischtreffen sang er, der bairische Linksradikale von Weltruf, das König-Ludwig-Lied. Ein trachtentragender Bajuware, der zugleich der einzige international renommierte Schriftsteller des bairischen Teils von Bayern war. Kein Unikum, kein Lederhosenclown, nein, ein guter, ein austarierter  Egozentriker, ein aufrechter Abweichler. Niemand ist je auf die Idee gekommen, Grafs Attitüden als Jux und den Lederhosenträger als komische Figur zu sehen. Beides verbot sich von selbst.

Mein Freund Miele aus Hamburg trägt einen Hamburger Hafenkittel, ich vermute, sogar im Bett, ich kann das aber nicht beschwören, weil ich nicht weiß, wie er sich in die Laken wirft. Aber ansonsten bin ich mir sicher: immer. Es ist ihm zur zweiten Haut geworfen, dieses Kleidungsstück aus dem Hamburger Hafen, das dort ausstirbt, wie Sackklatschen und die Kopftücher der Kohlenschlepper. Aber Miele trägt ihn, den Kittel, mit einer vollkommenen Selbstverständlichkeit.
Er trägt ihn zu allen Anlässen. In Clubs und Theatern, in Cafés und Kantinen, am frühen Morgen und späten Abend. Und weil Miele in jenem Teil der Hansestadt gut bekannt ist, aus dem die ganze heutige Stadt hervorgewachsen ist, lässt man ihn mit dem unüblichen Kleidungsstück auch in Terrains in denen man zumindest «Black Tie» erwartet. Ich habe keine Ahnung, ob Miele einen Smoking hat, aber trüge er das kleine Schwarze für Herren, das er indes nie trägt, obwohl er ohne Frage in Herr ist, so trüge er als Hemd den Kittel.
Miele ist kein Schriftsteller. Er ist Fotograf. Was aber ihn mit Oskar Maria Graf verbindet, ist die Selbstverständlichkeit diese gute Art von Egozentrik offen und unverschämt, also ohne blöde Scham, zu zeigen und die Kunst (Miele ist Fotograf), die hohe Bildung und eine bodenständige Form von Weltläufigkeit. Wo der US-Bürger Graf stets Bayer blieb, aber in Bayern niemals zu jener Form von Komödienstadl-Bayer wurde, der anderen mit konservierter Dummheit das Leben schwer macht, bleibt der Hamburger Miele stets Hamburger, Hafenratte, wie er das nennt. Hochnäsigkeit nach Eppendorfer Art oder Blankeneser Überheblichkeit würde der Intellektuelle Miele, der Kumpel, niemals akzeptieren – nicht bei sich, nicht bei anderen; so wenig, wie Oskar Maria Graf den kirchturmszentrierten, den vom landsmannschaftlichen Scheuklappenblick behinderten Provinzler akzeptiert hat, obwohl er sich selbst als Provinzschriftsteller bezeichnet hat.
Ich habe früh zu lesen begonnen, vor der Schulzeit schon, und ich glaube, ich bin mit Oskar Maria Graf recht bald, schon mit zwölf oder dreizehn in literarische Berührung gekommen. Mein Großvater hatte mir ein Buch Grafs geschenkt. Er ist Teil meines literarischen Fundaments. Gemeinsam mit Bredel und Borchert, Bukowski und Tolstoi bildet er die Bodenplatte, auf der ich mein Haus gebaut habe. Als ich vor bald dreißig Jahren Miele kennenlernte, war mir der Hamburger Egozentriker gleich ganz nahe. Wie Graf will er keines Menschen Freund um die Sünde der Schmeichelei und des Schönredens sein. Beide können grob sein bis zur Verletzung des Gegenübers, ich will mich nicht davon freisprechen auch über diese Eigenschaft zu verfügen. Aber darin liegt ja nicht nur verbale Ungezügeltheit, sondern auch Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit.

Oskar Maria Grafs Todestag jährte sich im Juni zum fünfzigsten Male. Der Ullsteinverlag, der mir in diesem Jahre so oft positiv aufgefallen ist – auch wenn der Satz der Bücher handwerklich besser gemacht werden könnte – hat zu diesem Jubiläum das Buch «Minutengeschichten» herausgebracht, als Herausgeber zeichnet Wilfried F. Schoeller verantwortlich. Schoeller ist Honorarprofesser an der Uni Bremen und war bis 2009 Generalsekretär des deutschen PEN-Zentrums.

Bei Ullstein ist auch die Werkausgabe Grafs erschienen. Und ich empfehle Ihnen, sich als Vorspeise die Minutengeschichten zu bestellen, aber keinesfalls auf den Hauptgang zu verzichten. Wenn Ihnen die Werkausgabe, die immerhin mit gut zweihundert Euro zu Buche schlägt, so kaufen Sie sich unbedingt «Das Leben meiner Mutter». Es ist eines jener Bücher, die in das Leben des Lesers zu wirken in der Lage sind.

So wie Miele mit seinen Fotos Hamburg und die Künstler der Stadt, den Hafen und die Häuser festhält, also die Wirklichkeit, so wie er sie sieht, so hat Graf die Wirklichkeit in seinen Büchern festgehalten.

Und während meine Graf-Lektüre in mein literarisches Schaffen einfließt, fließt meine Freundschaft zu Miele in meine Sicht der Welt ein. Ich darf Ihnen den einen als einen Schriftsteller empfehlen, der Sie bereichern wird. Und den anderen als Dokumentator hamburgischer Wirklichkeiten. Vielleicht wird es gelegentlich hie oder da eine Ausstellung mit seinen Arbeiten geben. Dann sollten Sie dort hingehen. Und wenn in meinen Büchern ein Mann in Hafenkittel bei einer Tasse Kaffees an einem Tisch oder Tresen sitzt, dann ist es er. Sie werden ihn sofort erkennen.

Oskar Maria Graf, Minutengeschichten, Ullstein, 20 €

https://www.facebook.com/meister.miele

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