Die Sprache des umstrittenen deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche verführte und verführt nach wie vor – nicht zu einer Lektüre sondern auch zu einer Fehlinterpretation seines Werkes. Wie bei kaum einem anderen Philosophen scheiden sich die Geister so wie bei ihm bzw. erreicht die Rezeption eine solche politische Spannbreite. Auf Nietzsche beriefen sich die deutschen Nationalsozialist*innen wie auch die französischen Resistance-Kämpfer*innen; seine misogynen Passagen wurden kritisiert und gleichzeitig berief sich ein Teil der deutschen (und englischen) Frauenbewegung auf ihn. Sein Zarathustra befand sich sprichwörtlich in den Tornistern der Soldat*innen, die begeistert in den I. Weltkrieg für „Ihr Vaterland“ zogen und bildete gleichzeitig eine Referenz für die Begründung einer zukünftigen Gesellschaft nach der Revolution von 1918/19 in Deutschland (vgl. Theodor Plivier, Die Anarchie) – mehr noch als das, war es Rudolf Rocker, der Also sprach Zarathustra ins Jiddische übersetzte.

Die anarchistische Nietzscherezeption war bislang ein blinder Fleck in der Forschung bzw. wurde als Marginalie behandelt trotz der Bedeutung als Referenz in anarchistischen Publikationen und Diskursen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einerseits herrscht in linken Kreisen immer noch ein Zerrbild von Nietzsche vor, was sich auch nach der Veröffentlichung seiner Gesamtausgabe durch zwei ehemalige, italienische Widerstandskämpfer noch nicht grundlegend gewandelt hat, andererseits herrscht im Mainstream der internationalen Forschung ein konservatives Klima vor.

Dominique Miething hat nun dankenswerter Weise für den anarchistischen Diskurs in Deutschland, Großbritannien und die USA diese Forschungslücke im Rahmen seiner Dissertation Anarchistische Perspektiven auf die Philosophie Friedrich Nietzsches gefüllt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf einzelnen Theoretiker*innen – u.a. Gustav Landauer, Rudolf Rocker, Fritz Brupbacher, Dora Marsden, Peter Kropotkin, Emma Goldmann, Randolphe Bourne, Herbert Read. Bei der Analyse der einzelnen Theoretiker*innen greift er sowohl auf die veröffentlichten Texte mit direktem Bezug als auch auf indirekte Verweise zurück, die er mit biographischen angaben einordnet. Sein Forschungsinteresse insgesamt bezieht sich auf die Wirkung Nietzsches auf anarchistisches Denken. Er zeichnet dabei sehr gut die jeweilige Deutung und auch Nutzung des nietzscheanischen Gedankenguts nach – ohne seine Auswahl der Autor*innen näher zu erläutern. Er gewinnt mit jenen aber einen breiten Querschnitt durch das anarchistische Spektrum – von Bohémien-Anarchismus, über Anarchokommunimus und Anarchafeminismus bis hin zu individualistischen Anarchismus, obwohl es natürlich bei weitem kein repräsentativer Schnitt der Bewegung(en) ist. Gerade in der Analyse mit der Auseinandersetzung im englischsprachigen Raum gewinnt die Arbeit an Bedeutung, weil hierzu bislang wenig in deutscher Sprache vorliegt. Ebenso zeigen sich seine Stärken in der Auseinandersetzung mit Gustav Landauer.

Im Fazit unterscheidet er drei Episoden der Nietzscherezeption im Untersuchungszeitraum –

1890-1914: Auslotung von Nietzsches Potential
1914-1933: Rezeption zwischen Ästhetik und politischen Aktivismus
1933-1947: Kulturelle Revolte gegen das Ressentiment

Diese Unterteilung macht durchaus Sinn und ist – trotz der transnationalen Herangehensweise – sinnvoll.  Aufbauend darauf untersucht er die Wiederentdeckung Nietzsche durch den Postanarchismus (Saul Newman, Andrew M. Koch) und streift dabei in einem Nebensatz auch das auf Georges Palante zurückgehende Konzept des „nietzscheanischen Anarchismus“ (S. 466f.). Hier scheint mir noch einiges an Potentialen zu stecken, was sich auch in neueren französischen Publikationen aus jenem Spektrum zeigt (z.B. Gisèle Souchon, Les grands courants de l’individualisme).

Im Anhang findet sich  zu dem ein sehr nützliches Verzeichnis von, in der (ausgewählten) anarchistischen Presse (z.B. Der arme Teufel, Internationale Arbeiter-Chronik, Mother Earth, The Egoist) publizierten Beiträgen zu Nietzsche.    

Als Sekundärliteratur verwendet er dabei vorrangig englischsprachige Literatur, was gerade in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Stirner fragwürdig ist, weil die diesbezüglichen Standardwerke (z.B. Bernd Kast, Die Thematik des Eigners in der Philosophie Max Stirners) in deutscher Sprache verfasst sind und keine Berücksichtigung finden. Insgesamt orientiert er sich stärker am englischsprachigen Diskus als am deutschsprachigen, was einige Problematiken mit sich bringt. Gerade der Bezug auf englischsprachige Autoren, die lediglich Stirner in englischer Übersetzung gelesen haben, als Referenzen für die Darstellung seiner Philosophie scheinen fragwürdig zu sein. Er vernachlässigt vor diesem Hintergrund viele wichtige deutschsprachige Texte zu den entsprechenden Denker*innen (z.B. zu Marsden) und stellt keine Brücke zwischen den Diskursen her.  
 
Leider weist die Arbeit insgesamt ein paar Schwachstellen auf – sowohl in Bezug auf die Kenntnisnahme relevanter Sekundärliteratur (z.B. der französischsprachigen Untersuchungen, einzelner deutschsprachige Nachschlagewerke) als auch bezüglich des aktuellen Forschungsstandes zu mehreren Unterthemen wie z.B. dem « Stirner-Nietzsche-Komplex », wobei er hierbei auch lediglich auf die gängigen Thesen aus dem englischsprachigen Diskurs zurückgreift (vgl. R. Hinton Thomas, Nietzsche in German politics and society 1890-1918). Unreflektiert übernimmt er dabei längst korrigierte Annahmen der Forschung wie z.B. den Misogynie- und Antisemitismusvorwurf gegen Proudhon (S. 18f), die These der Wiederentdeckung Stirners in den 1890er Jahren (S. 28) oder reiht kurzerhand das von Nietzsches Schwester inhaltlich geprägte Schlagwort vom „Willen zur Macht“ in eine Aufzählung von Nietzsches Kernkonzepten ein (S. 39). Seine Auseinandersetzung mit der individualanarchistischen Stirneraneignung weist ebenso ein paar Ungenauigkeiten auf.

Insgesamt überwiegen aber die positiven Seiten, so dass ich eine Lektüre empfehlen kann. Die Arbeit kann als ein Anfang gesehen werden, der ein Feld für weiterführende Forschungen öffnet. Hier wäre z.B. die Frage nach einer Brücke zwischen den Diskursen. Der Preis an sich dürfte allerdings etwas abschreckend wirken.


Maurice Schuhmann          

Dominique Miething: Anarchistische Perspektiven auf die Philosophie Friedrich Nietzsches. Deutschland, Großbritannien, USA (1890-1947), Nomos Verlag Baden-Baden 2017, 533 S., ISBN 978-3-8487-3711-6, Preis: 99 €.