Schmerzliche Erinnerungen
Andreas ist anders, nicht vor dem düsteren Grau will er flüchten, sondern vor dem Gelb des Frühlingerwachens. Sind es schmerzliche Erinnerungen, denen er sich entziehen will? Jugendträume von einem Park, in dem Lautsprecher auf den Bäumen hängen, aus denen die Musik Mozarts erklingt? Träume, die mit seinem derzeitigen Leben als Unternehmensberater nicht mehr kompatibel sind? Träume, die ihre Gültigkeit verloren haben, weil sein Pendant, seine Mitträumerin plötzlich verschwunden ist, wovon nur noch ein ausgetauschter, rechteckiger Klingelknopf an der Gegensprechanlage zeugt, der nun einem anderen Namen zugeordnet ist? Wir werden es als Leser nie erfahren, denn wenig Einblicke in sein wahres Seelenleben gibt uns Andreas, obwohl er auf seinen zahlreichen Streifzügen durch die Natur- und Kulturlandschaften unserer Erde stets nur verwandte Seelen trifft. Man lüftet den Hut, eine galante Bemerkung, man konversiert über Geschäfte und Kunst, man küsst die Hand, eine tiefe Verbeugung und man zieht weiter. Zurück bleibt der Eindruck einer sterilen Kunsthalle, die von dandyhaften, dekadenten Snobs bevölkert wird, die keine Wurzeln und keine Triebe haben, und dies im wörtlichen Sinne, also völlig ahistorisch, ohne familiäre Bindung und selbstverständlich kinderlos gedacht werden. Also ein Sammelsurium vereinsamter Gestalten.
Doch was Andreas an Leidenschaftlichkeit vermissen lässt, wiegt er in fachlicher Kompetenz wieder auf. „Beruflich Profi, privat Laie“, könnte man frei nach Günter F. Gross formulieren. Der Autor, Hans Bäck, hat die Anregung, die Andreas nach seiner Rückkehr aus Russland von einem seiner Kollegen erhalten hat, nämlich ein Fachbuch herauszubringen, aufgegriffen. Und das ist ihm auch wirklich gut gelungen, nämlich ein Fachbuch oder Sachbuch zu schreiben über die Transformation eines Stahlwerkes im Russland der Jelzinära, vor dem Hintergrund der Vereinigung Europas, dem Zusammenrücken von Kulturen und Staaten unterschiedlichster Ideologien. Anschauliche Schilderungen der Produktionsprozesse sowie der Verhandlungen und Beratungen im Stahlwerk, die – wider Erwarten – bei der Rezensentin absolut keine Langeweile aufkommen ließen, weisen darauf hin, dass es sich bei diesem Roman um Aufarbeitung authentischen Materials handelt. Worauf es seinem Protagonisten bei der geplanten Transformation ankommt? Dass dabei das Wichtigste nicht auf der Strecke bleibt. Und das sind die Menschen. Die menschliche Arbeitskraft, muss man präzisieren, die das Kapital der Firma darstellt. Denn nicht aus humanitären Gründen soll dies geschehen, sondern aus beinharter kapitalistischer Kalkulation.
Dennoch lässt es sich nicht vermeiden, dass sich zwischen Andreas und den Menschen, denen er bei seinen Umstrukturierungsarbeiten im Stahlwerk begegnet, auch zwischenmenschliche Beziehungen anbahnen, so zum Beispiel zu der hübschen Dolmetscherin Irina, die wohl seine Tochter sein könnte. Wird er auch diese auf der Strecke zurücklassen wie all die anderen Dolmetscherinnen und Kunsthistorikerinnen (mit oder auch ohne Designerbrillen) seines Lebens, in die er stets hineinblickt wie in einen Spiegel? Denn – obwohl weder formal noch inhaltlich vergleichbar – bietet sich dem Leser in diesem Roman ein wahrhaft Bernhard’sches Szenario dar, in dem Sinn nämlich, dass die Hauptfiguren alle die gleichen Wesensmerkmale tragen, sich charakterlich und in ihren Verhaltensweisen keine Spur vom Protagonisten unterscheiden; alle Aussagen der Frauengestalten, die Andreas auf seinem Lebensweg begleiten, könnten genauso gut als sein eigener Monolog durchgehen. Alle Antagonismen sind beseitigt, alle Geschlechtlichkeit ausgelöscht, Altersunterschiede scheinen getilgt oder werden höchstens in einem beiläufigen Satz erwähnt. „Seine“ Frauen analysiert Andreas wie die betrieblichen Kennzahlen „seines“ Stahlwerks, und obwohl er sich fern eines jeglichen Utilitarismus wähnt, scheint er dennoch selbst im privaten Bereich seine Entscheidungen nach diesem Prinzip zu treffen. Doch zu dieser Erkenntnis fehlt es ihm an der nötigen Selbstreflexion.
Wird die plötzliche unerwartete Wiederbegegnung mit der Jugendliebe Celia die Midlife Crisis bei Andreas auslösen und den längst überfälligen Wendepunkt in seinem Leben herbeiführen? Wird er zu seinen Träumen von Lautsprechern auf den Bäumen zurückfinden? Wird er von nun an seinen Kastanienbaum täglich mehrmals mit Lautsprechern behängen, aus denen ab sofort auch die Musik Tschaikowskys erklingen wird? Welche Beziehungsfäden wieder geknüpft, welche zerrissen werden, das – geschätzer Leser, geschätzte Leserin – herauszufinden, möchte die Rezensentin Ihnen überlassen.
Leider sind – trotz angeblich aufmerksamen Lektorats – auch in diesem Buch wieder etliche Fehler stehengeblieben bzw. ist wahrscheinlich in Ermangelung eines Lektors, einer Lektorin aus Fleisch und Blut möglicherweise Korrektes dem automatischen Korrekturprogramm, das gerne auch einmal Richtiges auf falsch ausbessert, zum Opfer gefallen.
Résumé: Ein durchaus spannendes Buch.
Bild: Hans Bäck während einer Lesung in Kapfenberg