wenn die stadt erwacht, singt ein leichter
kalter wind songs von polly scattergood
Leander Sukov im Gespräch mit Sven Olsson
Frage: Deine erste musikalische Begegnung mit Polly Scattergood ist romantisch. Sie gibt deinem neuen Lyrikband seinen Titel.:„wenn die stadt erwacht, singt ein leichter kalter wind songs von polly scattergood“ ein. Könntest du das nochmal schildern?
Leander Sukov: Ich bin vor etlichen Jahren auf sie bei youtube gestoßen. Den Anlass nach ihr zu suchen gab ein Artikel, eher ein Artikelchen im Spiegel. Und das erste Stück von ihr, das ich fand war „New York, New York“, dieser Sinatra-Titel, der ursprünglich von Liza Minelli gesungen worden war. Polly hatte ihn völlig dekonstruiert, jedes Tempo herausgenommen. Aus dem Aufbruchsstück wurde dadurch ein Lied voll Sarkasmus.
Das war wohl aus einem Computerspiel. Keine Ahnung. Jedenfalls war es groß! Und dann kamen die Stücke nach und nach und dann ihre erste Longplay. Mit „I am strong“ und „Bunny Club“. Ich habe da ja noch in Berlin gewohnt. Und Simone und ich hatten oft Lesungen spät nachts, ich habe ja auch in Clubs aufgelegt. Und ich hatte, wenn sich dann Schwarz zu Blau dreht (Peter Fox) und ich aus den Clubs kam, dass elfenartig Polly durch Berlin schwebt und der Wind ihre Lieder singt.
Frage: Wie stark inspiriert dich Musik? – Siehe „Susann“, Leonhard Cohen summt mit.
Leander Sukov: Sehr. Ich höre immer Musik beim Schreiben. Ich brauche zur Konzentration eine Geräuschkulisse, sonst geht es nicht. Das war in meiner Kinderzeit steter Quell der Auseinandersetzung mit Erwachsenen, da habe ich auch immer Musik gehört, wenn ich zu Hause war. Ich habe ja Asperger, also das was Einstein hatte und auch Greta Thunberg hat. Aber ich habe quasi umgekehrten Asperger. Nicht nur, dass ich beim Lesen, Hören immer alle Bedeutungen einer Äußerungen erfasse, quasi zwangweise, ich fühle mich auch in Menschenmassen wohl. Wer mit mir schon mal eine Shoppingtag zugebracht hat, weiß was ich meine. Deshalb also die Musik, sie hilft mir mich zu konzentrieren. Aber mit der Musik ist es wie mit jeder Kunst. Alles zerfällt inzwei Arten: die, die ich mag und die, die ich nicht mag. Ich hoffe, dass das oft auch begründbar mit „gut“ und „weniger gut“ zusammenfällt. Schließlich bin ich auch Literatur- und Theaterkritiker. Es gibt also keine alte Musik als Genre, sondern ausschließlich als Altersbezeichnung. Zappa und Mozart unterscheidet nicht die Qualität.
Musik ist also außerordentlich wichtig. Ich verbringe schon ein wenig Zeit damit, nach neuen Interpretationen und nach neuen Songs auf youtube und anderswo zu suchen. Vielleicht sollte ich hier, vermutlich überraschend, zwei der vielen Lieblingsstücke nennen: Das Violinenkonzert 1-dDur von Tschaikowski (vorzugsweise von David Oistrach eingestrichen) und „Kari waits for me“ (vorzugsweise von Lasse Kolstad eingesungen). Es gibt auch Lieder, die ich wegen ihres Anlasses liebe. „White Cliffs of Dover“ zum Beispiel, das ja ein Lied über den Kampf der Briten gegen das faschistische Deutschland ist. Oder „Tamna je noc“, ein sowjetisches Lied aus dem zweiten Weltkrieg. Sie sind von zeitloser Schönheit. Und da die Welt die Hölle ist, sind sie ja nicht obsolet. So wenig übrigens wie das Herz und Verstand ergreifende Lied „Shtil Di Nakht“ vom Wilnaer Dichter Hirsh Glik. Es geht da übrigens um die guten Heldinnentaten von Vitka Kempner, die einen Munitionskonvoi der faschistischen Wehrmacht in die Luft gesprengt hat. Für mich ist Musik also nicht nur Hintergrundgeräusch oder einfach nur schön (oder nicht), sondern ich interagiere mit ihr intellektuell beim Schreiben.
Frage: Der Band beginnt mit Liebesgedichten. „Nach dir schrie ich…“ Lassen sich aus deiner Lyrik biblische Anklänge heraushören? Vor allem alttestamentarische? Hinter denen eher ein furchteinflößender Gott steht? Wie bibelfest bist du? Welchen Raum gibst du dem „Buch der Bücher“ in deinem Leben?
Leander Sukov: Ich glaube, ich bin recht bibelfest. Aber ich bin nicht einmal Atheist. Das sage ich so, weil es dafür nicht an z.B. Winnetou zu glauben, auch kein Wort gibt. Wir sind unser Gott und unsere Götter. Gott ist eine Übereinkunft, die jeder Mensch mit sich trifft und die zugleich angelernt, soziologisch geschaffen worden ist.
Die Bibel ist ein großartiges Werk der Autorengruppen. Ein Buch mit ungemein poetischer Kraft. Daraus nicht zu entnehmen, würde mir nie einfallen. In „Obszön“, dem Langgedicht über die Hölle, in der die Menschheit lebt, und die einige für alle schaffen, habe ich das Hohe Lied Salomons verarbeitet in einem Teil des Werks. Die Bibel kann, vielleicht mehr als andere religiöse Schriften, wobei ich wenig über die Veden weiß, zeigen, wie sich ein Volk bildet, zerfällt und wieder bildet. Die Autorengruppen hat über eine lange Zeit geschrieben. Das ist doch eine spannende historische Lektüre, die zugleich eine enorme sprachliche Kraft hat. Die Schöpfungsgeschichte ist in der ältesten Version 3000 Jahre alt und in der jüngsten 2500. Schon aus den Unterschieden lassen ganze Visionen ableiten, lassen sich Gesellschaften besser analysieren. Mir ist, von Kraft und Splattertum sicher der ältere Teil näher. Eine Welt, die so ist, wie ich die Welt erlebe: Als Hölle. Mord, Totschlag, Intoleranz, Verfolgung, Gewalt, Vergewaltigung, Folter, Zerstörung, oft auf Befehl des Gottes, wenn man diese Figur für eine nimmt. Im NT dann die Versöhnung. Das Neue Testament ist die Utopie. Das AT ist die Realbeschreibung der Welt.
Frage: Deine Gedichte leben vom Widerspruch, sind kontradiktorisch. Was romantisch, traumverdichtet beginnt, wendet sich plötzlich ins Schmerzliche. „manchmal träume ich mir ein haus, ein altes, efeuberanktes haus, irgendwo im grünen. an einem deich in norddeutschland, oder in der bretagne, in irland oder am comer see. da bin ich, in meinen träumen im garten, wo die rosensträucher blühen, und es gibt keine sorgen, nur sonne und haus und uns. das ist mein albtraum, dass ich herausfalle, aus allen kämpfen, aus dem kampf meiner klasse,…“
Wie sehr kämpfen diese Seiten in dir? Spielen Lebens-Erinnerungen eine Rolle? Schreibst du deinen Gedichten Appellcharakter zu? Kämpfen Lyrisches Ich und die Figuren deiner Lyrik für dasselbe Ziel?
Leander Sukov: Diese Seiten kämpfen in mir, wie in den meisten politisch aktiven Menschen. Eigentlich würden wir alle gerne umgeben von Schönheit tun, was auch schön ist. Aber so waren die Zeiten doch noch nie. Für mich ist das eine Frage der Korrumpierbarkeit. Ich will nicht korrupt sein, und das wäre ich ja, wenn herausfallen würde, sozusagen in meinen eigenen Traum, aus den Kämpfen meiner Klasse. Wobei Klasse … ich bin ja bei meinem proletarischen Großvater aufgewachsen, der aber wusste, dass diese Familie Briola, zu der er und ich gehöre, und die Familie Hoffmann meiner Großmutter halt auch Großkopferte waren, bevor sie zum Proletariat gehörten.
Und mein Vater, den ich fast nicht kenne, weil meine Mutter sich scheiden ließ, als ich zwei war, gehörte zu den alten Altonaern Kaufmannsfamilien mit engen Bindungen an das Patriziertum in Hamburg. Diese Erzählungen waren immer ja auch da. Der geschnitzte Elfenbeintotenschädel aus polnischem Erbe, die Ebenholzanrichte, die alten Orden aus dem achtzehnten Jahrhundert. Aber trotzdem war das Fundament immer ein proletarisches. Linkes sozialdemokratisches Erbe quasi.
Ja, ich appelliere mit dem, was ich literarisch mache, also auch mit der Prosa. Ich hoffe, mein Appell bleibt dabei einer der zweiten Ordnung. Denn ich berichte ja eigentlich immer nur. Aber halt schonungslos. Meine Appelle ergeben sich also aus dem Bericht, weil niemand eine solche Welt dulden wollen soll, wie die, in der wir leben. Ich schreibe politische Texte. Es gibt nichts Unpolitisches. Es gibt schon gar keine unpolitische Literatur. Jede Literatur ist politisch. Meine Figuren sind deshalb Figuren dieser Welt, in der Prosa deutlicher gezeichnet, als in der Lyrik. Sie kämpfen darum gehört zu werden.
Auf einer Metaebene kämpfen sie um gleiche Ziele, auf der konkreten Handlungsebene kämpft der Bauer, der in Basra den Kinderfriedhof anlegte für etwas konkret Anderes, als der lyrische Ich-Leander, der im Kampf seiner Klasse verbleiben will.
Frage: Du bist ein ‚zoon politikon‘. Wie wichtig ist dir das Ringen um Wahrheitserkenntnis in deinem schriftstellerischen Werk?
Leander Sukov: Die Wahrheit ist ja die Sicht auf die Welt die das Individuum hat. Wahrheit scheint mir immer subjektiv zu sein. Ich würde den Begriff der Wirklichkeitserkenntnis vorziehen. Ich habe meine Analysemethoden von Marx und Hegel, die Dialektik, mehr von Marx allerdings, ich habe mein Wissen um die Sprache von Klemperer und das Geschichtsbild aus vielen, vielen Berichten, aus den Tagebüchern von Anne Frank, aus den Büchern von Sebastian Haffner, aus wissenschaftlichen Büchern über europäische Geschichte. Daraus setzt sich alles zusammen, das sind die Balken, die meine Wände halten.
Frage:Gibt es Dichter, die dich beeindrucken, möglicherweise auch beeinflussen? François Villon?
Leander Sukov: Unbedingt. Und der gleich zweimal: Als er selbst, allerdings auch in Übersetzung und als Paul Zech, der ihm die langlaufenden Zeilen untergeschoben hat, die aber von großer Schönheit sind. Aber auch Heine, Bukowski (der ja auch in seinen Gedichten berichtete) und vielleicht mit einem besonderen Schwerpunkt Majakowski.
Frage: Augenscheinlich ist deine Liebe zu Langgedichten. Dass du auch „kurz“ kannst, beweist du natürlich immer wieder, z.B. mit „du im Schlaf“. Gibst du einer Form den Vorzug (und warum)?
Leander Sukov: Nein, eigentlich nicht. Die meisten meiner Gedichte sind ja eher kurz. Ich glaube, alles hat seiner Form, die muss den Inhalt bewahren und tragen. Das gilt für die Länge und das gilt auch für die Frage ob Prosadichtung, ob Reim (und welcher), ob Blankvers.
Foto Marco Sagurna