Es gibt seit einigen Jahren eine Debatte um Identiätspolitik. Und in der Tat kennt ja jeder die sogenannten Identitären, die für die Nachfahren der Kolonialstaatsbürger, also uns, eine solche Politik fordern: Abschottung, kulturelle Chauvinismus, Rassismus, Hinwendung zum Eliten- und Führerstaat.

Aber auch die Identiätspolitik der Menschen, die durch die Kolonialstaaten unterdrück wurden, deren kulturelle und künstlerischen Traditionen zerstört wurden, bedarf Kritik. Wenn auch solidarischer und vorzugsweise von innen und nicht von außen. Von innen allerdings ist meine Kritik sofern sie die Politik der hiesigen Unterstützergruppen betrifft, die oftmals in patronationalistischer Weise rassistisch sind, weil sich weiße Mehrheitsgesellschaftsangehörige anmaßen Entscheidungen zu treffen, die doch eigentlich nur von denen getroffen werden dürften, die von Rassismus und den Folgen des Kolonialismus direkt betroffen sind.

Ich habe das Gefühl, dass viele engagierte Personen der weißen Mehrheitsgesellschaft einen Menschenzoo schaffen, mit den von ihnen selbst geschaffenen Zerrbildern als Streicheltiere. So werden wir alle am Ende keine Veränderung schaffen, weil die Hegemonie des sogenannten Westens nicht dadurch gebrochen werden kann, dass er sie wahrnimmt.

Ich will drei Bereiche herausgreifen, in denen ich ein erhebliches Konfliktpotential sehe, aber auch eines für Aufbrüche:

Der erste Bereich ist die sogenannte klassische Musik, die immer nur eine klassische Musik des weißen Westens ist, wenn man von ganz, ganz wenigen, kaum bekannten Ausnahmen absieht. Dabei gibt es selbstverständlich auch klassische Musik, also solche, die ein Teil des kulturellen Fundaments bildet in zum Beispiel in China, die chinesische Oper sei stellvertretend genannt. Ich bin mir sicher, bei ordentlicher Betrachtung finden Musikwissenschaftler klassische Musik eigener Ausgestaltung auch in Afrika und anderswo.

Der zweite Bereich ist die Literatur, die trotz der im Vergleich zur gesamten Weltbevölkerung niedrigen Zahl von Menschen aus westlichen Ländern von Europa und den USA dominiert wird. Das drückt sich auch in den Literaturnobelpreisen und ihrer geografischen Verteilung aus.

Und der dritte Bereich ist der Bildenden Kunst, die, bis auf wiederum wenige Ausnahmen, auf Europa fokussiert. Selbst die USA sind im Verhältnis zu Europa bei der klassischen Moderne und dem was die Herleitung von Entwicklungen ausmacht marginalisiert. Kunst auf Afrika, in den allermeisten Fällen, auch asiatische und lateinamerikanische Kunst gelten als Volkskunst, als ethnologische Fundstücke usw.

Wir kommen gegen diese Reduktion von Kunst aus den Regionen der Welt, die nicht Europa oder die USA sind, nicht an, können sie nicht aufheben, wenn nun auch die fortschrittlichen Menschen Identitätspolitik als Abschottungspolitik verstehen.

Zugleich haben wir immer noch Rassimen und Vorurteile im Sport (hier insbesondere bei homosexuellen Sportler:innen), im Theater (hier insbesondere das Blackfacing und der fehlende Wille homosexuelle Rollen auch mit solchen Darsteller:innen zu besetzen) und in der Politik, die Anzahl migrantischer Politiker:innen entspricht ja nicht der Bevölkerungsverteilung.

Es kommt darauf an, so meine ich, die Hegemonie der Kultur der weißen Mehrheitsgesellschaft aufzuweichen und abzutragen. Dazu braucht es nicht den Rückzug auf die Burg der eigenen Identität, sondern das Festhalten an der Integrität der einen Kultur.

Im Song Melting Pot der Gruppe Blue Mink aus dem vorigen Jahrhundert heißt es im Refrain:

What we need is a great big melting pot
Big enough enough enough to take
The world and all its got
And keep it stirring for a hundred years or more
And turn out coffee coloured people by the score

Und wir haben ja nun für mehr als hundert Jahre gerührt.

Und was für die Menschen gilt, gilt auch für die Kulturen. Wir brauchen einen Wald von Kulturen und nicht einzelne Bäume auf Hügeln. Und wir brauchen schon gar keine europäische solitäre Eiche auf dem künstlich errichteten größten Hügel.