Die untergründige Stadt

„‘Rebellisches Berlin‘ beschreibt die Berliner Stadtgeschichte von unten – von der Seite der Kämpfe, der Widerständigkeiten, der Aufstände, der versuchten kaum jemals geglückten sozialen Revolution(en).“ (13) schreibt das Herausgeber*innenkollektiv Gruppe Panther einleitend zu ihrem umfangreichen alternativen Stadtführer „Rebellisches Berlin“. In 13 übergeordneten Kapitel (mit einer Vielzahl von Unterkapiteln) auf über 800 Seiten werden Berliner Stadtgeschichte und -geschichten „von unten“ erzählt. Themen sind dabei sowohl (post-)migranntische Kämpfe (Refugee-Strike, Anticolonial Africa Conference), Arbeiter*innenkämpfe (Orte der Sexarbeiter*innenbewegung), Klimaproteste (Fridays for Future), Hausbesetzungen (Georg-von-Rauchhaus) und auch historische Ereignisse (Nolympia, Blutmai 1929, Bierboykott 1894). Die Aspekte spiegeln die reichhaltige Protestkultur in Berlin sehr gut wider. Die Genres reichen von historischen Darstellungen inkl. der umfangreichen Zitation von Quellen, über aktuelle Analysen bis hin zu Interviews mit Aktivist*innen. Qualitativ sind die Beiträge – bis auf einige Ausreisser – hochwertig – und auch reichhaltig – vor allem mit Material aus dem (momentan stark auf Spenden angewiesenen) Umbruch Bildarchiv – illustriert. Das umfangreiche Kompendium steht damit ein Stück weit in der Tradition von Bernd Engelmanns Studien à la „Wir Untertanen“ (1991). Und es ist eine würdige und wichtige Fortsetzung einer solchen Forschung – vor allem aus der Sicht der Betroffenen.

Zur besseren Orientierung gibt es auch umfangreiches Kartenmaterial, welches zentrale, beschriebene Orte situiert. Weiterhin gibt es ein Glossar, welches die Lektüre erleichtern soll.Das Glossar ist allerdings mehr als überflüssig, da viele wichtige Begriffe fehlen und andere nur äusserst oberflächlich definiert werden. Auf (lediglich) 5 Seiten werden Infos zur Abkürzung LGTBIQ, K-Gruppen, Interventionistische Linke oder Willy Brandt gegeben….. Es wirkt sehr willkürlich. Apropos Kritik, trotz aller positiven Aspekte, die dieses empfehlenswerte Kompendium bietet, sollte man erwähnen, dass der gewählte Titel ungünstig ist. Einerseits ist es der Name einer Berliner Stadtführungsagentur, zum anderen erinnert der Titel natürlich an den Stadt- und Wanderführer „Berlin – freiheitlich und rebellisch“ von Joachim Berger (1986). Ein Blickwinkel, der in diesem Band allerdings zu kurz kommt, ist die Ostberlinerperspektive, obwohl man dieser ein eigenes Kapitel widmet. Einträge zum Kirchentag von Unten oder zur oppositionellen Umweltbibliothek sucht man vergeblich, während man sich wieder einmal auf Punkrock in der DDR fokussiert.Insgesamt scheint mir hier der West- oder „Gesamt-“Berliner Blick zu überwiegen. Dennoch ist es eine lohnenswerte Anschaffung – nicht nur für Alteingesessene oder Zugezogene.

Maurice Schuhmann

Gruppe Panther & Co. (Hg.): Rebellisches Berlin. Expeditionen in die untergründige Stadt, Assoziation A Berlin / Hamburg 2021, 840 S., ISBN: 978-3862414437, Preis: 29,80 €.