Donnerstag, 15. Dezember 2016, bei Arien von Wagner, Verdi, Meyerbeer und Leoncavallo, gesungen vom nach wie vor unvergleichlichen Lauritz Melchior
Vorgestern sah ich einen Filmbericht über den Münchner Fotografen York Hovest, der bei den letzten Naturvölkern im Amazonasgebiet gelebt und beeindruckende Bilder von dort mitgebracht hat. (siehe: York Hovest, Hundert Tage Amazonien, Meine Reise zu den Hütern des Waldes). Hovest berichtete im Interview u.a. von der ungeheuren Sensibilität der Sinne der Ureinwohner. Sie hätten, sagte er, das Kommen eines Flugzeuges über ihrem Territorium meist schon lange vor ihm gehört. Während er zehn Minuten hindurch behauptete, ihr irrt Euch, da kommt kein Flugzeug, bis es am Himmel erschien und er das Versagen seiner Ohren eingestehen musste. Diese Sensibilität der Wahrnehmung hätten wir längst verloren, sagte er.
Ich musste dabei an Imre Kertész denken, der am 31. März dieses Jahres starb. Irgendwo hatte ich vor Monaten eine Kleinigkeit über ihn geschrieben, suchte lange und fand die Notiz vorhin in meinem Nachttagebuch, das ich im Mai mit den Worten begonnen habe: „Ein Nachtbuch zu führen ist sicherlich nicht klug.“ Über Kertész schrieb ich am Samstag, dem 18. Juni, um 01:53:
„Viel in Imre Kertész sogenannten Tagebuch-Roman „Letzte Einkehr“ gelesen. Er scheint ein Autor gewesen zu sein, der sein Schreiben beständig der Depression abringen musste. Wie oft schaut er aus dem Fenster oder vom Balkon, um den Abstand bis zur Straße abzuschätzen, auf die er sich zu stürzen erwägt. Das Buch, an dem er jeweils schreibt, ist immer fürchterlich schlecht und ganz und gar sinnlos. Da er wohl bipolar war, kommt ihn mitunter ein euphorischer Schub an, sodass er glaubt, Apollo selbst führe ihn und sammele alles ein, um es zu einem Buch zu fügen. Aber schon zwei Seiten später heißt es, das gesamte Material des Romans müsse restlos vernichtet werden.
Ein anderes ständiges Thema ist sein Judentum, der Antisemitismus in Europa und die seiner Meinung nach bevorstehende vollständige Vernichtung der Juden. Man kann einem Menschen, der das KZ überlebte, naturgemäß nicht vorwerfen, dass er an einem Verfolgungswahn leide. Aber manche seiner Äußerungen klingen doch sehr danach. Hätte Imre Kertész im Gegenteil Recht, dann müsste man gewährtigen, dass wir auf einen europa- oder gar weltweiten Faschismus zusteuern und zu dumm sind, es zu sehen.“
Welchem zeitlichen Abstand entsprechen die zehn Minuten der amazonischen Ureinwohner auf der historisch/politischen Ebene? Wie weit reicht unsere Sensibilität? Wenn sie nicht weit genug reicht, so werden wir wohl alle dafür bezahlen müssen.
Ich wünsche Ihnen
offene Augen und Ohren
Peter H. Gogolin