Ich bin ein queerer, deutschsprachiger Schriftsteller. Meine Freunde wissen das, die Leser:innen meiner Gedichte könnten es erraten, jene meiner fiktiven Prosaliteratur jedoch kaum.

Als ich fünfzehn oder sechszehn war, eher fünfzehn als sechszehn, saß ich eine halbe Nacht mit Freunden zusammen. Ich hatte in den Monaten vor dieser Nacht meine Mutter, meinen Arzt, eine Psychologin und mich selbst davon überzeugt, dass eine Geschlechtsumwandlung eine gute Sache wäre. Es fehlte also nicht mehr viel. Das was noch fehlte, war die behördliche Zustimmung. Um die wollte ich mich bemühen in den nächsten Wochen. Meine Freund:innen fielen an jenem Sonnabend quasi unangekündigt bei mir ein. Wir kannten uns lange, so lange, wie man sich mit fünfzehn oder sechszehn Jahren kennen kann, wenn man von lang redet. Im diesem Kreis war ich nun die einzige Person, die sich vehement für den Plan einsetzte. Die anderen redeten auf mich ein. Und ihnen war, wie unschwer zu erraten ist, Erfolg beschieden. Insbesondere ein Mädchen, dass ich aus dem Jugendrotkreuz kannte, war für den argumentativen Durchbruch verantwortlich. Auf ihre, in immer neuen Varianten, vorgetragene Frage, was sich den „um Himmels willen“ ändern würde, hatte ich keine Antwort. Ich wollte ja keine Frau werden, ich wollte kein Mann mehr sein. Das ist etwas völlig Anderes. Und es war, damals wenig lösbar. Meine Idee, die ich so eloquent verfolgt hatte, war quasi eine Übersprunghandlung. Von denen, die da zusammensaßen, hätte vermutlich niemand meinem Plan widersprochen, wenn es tatsächlich darum gegangen wäre, dem falschen Köper zu entkommen, also den Fehler zu berichtigen, das Geschlecht anzugleichen. Aber sie spürten, vielleicht wussten sie es auch, dass es eben darum nicht ging. Aus dem als falsch empfundenen Mann hätte ich eine als falsch empfundene Frau geformt. Gewonnen wäre nicht die Freiheit, die ich ja eigentlich wollte, sondern eine neue, stärkere Unfreiheit. Eine stärkere Unfreiheit, weil wir ja in einer patriarchalischen Gesellschaft leben.

Mir kam damals der sexuelle Aufbruch zugute. Ein Aufbruch, den ich, man verzeihe mir das unzweideutige zweideutige Wortspiel, körperlich spürte. Und zwar quasi wann immer ich es wollte. Die stete Freiheit zur sexuellen Interaktion war in ihrer unerschütterlichen Stärke und in der, diese Stärke hervorbringenden Unschuld vorbei, als ich von stadtteilbezogenen Jugendclubs und Matratzenlagern, von Jugendrotkreuz und heimlichen, es galt ja noch der Wirkkreis des $ 175, Erlebnissen in die politische Arbeit wechselte. Das geschah kurz nach der Nacht, von der ich eingangs sprach. Und eines meiner ersten Erlebnisse war die Busfahrt mit der Landesorganisation der Jusos zu einer Demonstration. Ich meine, es ging nach Bremen. Den Anlass weiß ich nicht mehr. Das war wohl 1973 oder 1974. Neben mir saß ein eher kurzer Genosse mit vielen Pickeln, vor dem man mich warnen zu müssen meinte: Es wäre homosexuell. Für mich bedeutete das, dass ich mich bedeckt halten würde. Und, ich bedauere meine Feigheit, habe ich das lange auch getan. Ich hätte, andere hätten auch, viel aggressiver, mit der notwendigen Brutalität unsere Freiheitsrechte einfordern müssen. Ich habe mich ja stets als bisexuell gesehen. Das Wort „pansexuell“ gab es noch nicht. Dort wo es offensichtlich war, wurde die Erkenntnis verdrängt. Ein Genosse sagte mir noch Ende der Neunziger, ich solle aufhören, solchen Unsinn zu erzählen. Dabei saß er nicht nur einmal nach Partys mit mir und anderen beim Frühstück und hätte aus dem, was sich dort offen darbot ja Schlüsse ziehen können.

Es ist die Krux der Arbeiterbewegung, zu der wir uns ja zählten, auch ein mehr als gerüttelt Maß Prüderie zu besitzen. Aber nicht nur sie hat diese Prüderie als Merkmal. Der Literaturbetrieb, wie man so schön sagt, dem ich nun seit mehreren Jahrzehnten angehöre, hat das nämliche Problem. Eine deutsche Autorin, ein deutscher Autor kommt eher mit einem schlecht geschriebenen Gegenwartsroman in die Feuilletons, als mit einem gut geschriebenen erotischem. Es ist, immer noch in vielen Fällen, und es war vordem in allen Fällen so, dass Sexualität zum Problem gemacht werden muss, um literarisch als akzeptable zu gelten. Wer, ob Autor oder Autorin, immer auch eine Figur schaffen würde, die viele wechselnde Sexualpartner hat, sich ansonsten jedoch eines glücklichen Lebens erfreute, würde sich fragen lassen müssen, ob die schlimme Kindheit, denn der Trieb muss ja Gründe haben, nicht hätte ausgeführt werden müssen im Text.

Ich kenne namhafte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sich trotz Preisen und Stipendien genötigt sehen, Erklärungen darüber abzugeben, dass sie auch erotische Literatur schreiben oder geschrieben haben.

Wir, die queere Minderheit im Literaturbetrieb, die so klein nicht ist, sollten vielleicht über unsere eigenen Probleme mit der uns umgebenden Mehrheitsgesellschaft schreiben. Das ist gar keine Kritik. Künstler machen Kunst, nicht bestimmte Kunst, sondern von ihnen gewollte. Das gilt auch für die Literatur. Es ist eher eine Aufforderung, auch an mich. Denn ich werde ja nicht der Einzige sein, der sich über die mangelnde Sichtbarkeit von transsexuellen Personen im Literaturbetrieb wundert, über die geringe Anzahl homosexueller, gleich welchen Genders, über das fehlen von Romanen über Asexualität, die natürlich auch dazu gehört. Ich bin ein pansexueller deutschsprachiger Schriftsteller, der für sich Genderzuordnungen ablehnt, also a-gender ist und weiß, dass er als männlich gelesen wird, und damit klar kommt. Wie viele mag es geben, mit wie vielen Geschlechtern in diesem Literaturbetrieb, in den Gewerkschaften als Funktionspersonen und den Parteien? Und wie viele mögen es verheimlichen, auch aus Existenzangst?