Sozialdemokratische Utopien
Die (deutsche) Sozialdemokratie verbindet man nicht unbedingt mit Utopien. Ursprünglich aus einer marxistischen Tradition stammend, die sich von anderen Strömungen des Sozialismus, d.h. konkret des sog. Frühsozialismus, in nomineller Abgrenzung zu deren vermeintlich utopisches Denken (vgl. Friedrich Engels, Von der Utopie zur Wissenschaft). Unter dem Titel „Utopie. Für ein besseres Morgen“ haben Thomas Hartmann, Jochen Dahm und Frank Decker die Beiträge der im Wintersemester 2018/19 an der Universität Bonn in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierten Ringvorlesung. Das Verhältnis von Sozialdemokratie und utopischen Denken wird auch gleich im ersten inhaltlichen Beitrag – „In die neue Zeit: Sozialdemokratischer Fortschritt und Utopie“ – von den beiden SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken und Nobert Walter-Borjans problematisiert.
Das Geleitwort für die Veröffentlichung hat Kurt Beck, ehemaliger Bundesvorsitzender der SPD und derzeit Vorsitzender der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, geschrieben. Die Beiträge an sich stammen von den Referent*innen der Vorlesungsreihe. Hierzu zählen u.a. Journalist*innen wie Markus Beckedahl und Teresa Bücker, Hochschullehrer*innen wie Paul Mason (Loughborough University [GB]), Frank Decker (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn) oder Brigitte Geißler (Goethe-Universität, Frankfurt a.M.) sowie eine Reihe von Sozialdemokrati*nnen wie Heidemarie Wieczorek-Zeul (Bundesministerin a.D.), über Norbert Walter-Borjans (ehemaliger Bundesvorsitzender der SPD) und Thomas Hartmann (Referent in der Akademie für Soziale Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung).
Im einleitenden Kapitel bemerken die Herausgeber: „Die Autorinnen und Autoren eint der Blick auf die Krisen der Gegenwart, die durch die Corona-Pandemie noch stärker in Erscheinung treten, und zugleich die Hoffnung auf Veränderung zum Besseren: Etwa ein Wirtschaftssystem, das sich stärker am Gemeinwohl orientiert und dem Erhalt der Umwelt dient, eine Gesellschaft der Gleichen mit Beteiligung aller, oder das Streben nach mehr internationaler Zusammenarbeit, um die globalen Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam bewältigen zu können“ (10). Die bearbeiteten Themen sind so vielschichtig wie die Auswahl der Autor*innen, die auch nicht nur aus dem deutschsprachigen Kontext stammen, so dass die Palette dadurch auch etwas bunter wird. Sie reichen von feministischer Utopie („Über eine feministische Zukunft“), über die Zukunft der (Parteien-)Demokratie (Brigitte Geißel, Enrico Liedtke) und Ökologie (Uwe Schneidewind, Otfried Höffe) bis zu Grundrechten im digitalen Zeitalter (Markus Beckedahl) und Ökonomie (Ulrike Herrmann, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Pierre Rosanvallon). Leider haben nur ein paar Beiträge die utopischen Qualitäten von Beitrag. Sie wirken – platt ausgedrückt – zu „realistisch“. Ebenfalls von großem Interesse ist der Beitrag von Aleksandra Sowa über kybernetischen Sozialismus. Solche Beiträge bieten interessante Denkansätze in einem insgesamt durchmischten Sammelband.
Maurice Schuhmann