Er wird uns fehlen. Reich-Ranicki war als Kritiker eine solitäre Institution. Das ist unser Dilemma, vielleicht war es auch schon das seine. Und glaubte man an eine Göttin der Literatur, die etwas zu sagen hätte, so könnte man der Meinung sein, wir würden abgestraft für irgendeine Nachlässig- oder Widersetzlichkeit. Denn natürlich ist der Zustand eines solitären Literaturkritikers diesen Formats eine historisch bedauerliche Causa. Wir hatten Reich-Ranicki, das ist viel, aber sonst hatten wir niemanden, der es ihm gleich tun hätte können im Bereich der öffentlichen Rezeption, der Agitation für Literatur, der Dramatisierung von Kritik. Die Generation, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts lebte und las, hatte gleichzeitig Kurt Tucholsy, Karl Krauss und Alfred Kerr. Wir hatten zwar noch Walter Jens, wir haben nach wie vor Schirrmacher, Karasek, Kaiser und Radisch sowie ein paar andere, aber sie alle, uns hier auf dieser oft und gern gelesenen Plattform in den Weiten des Netzes eingeschlossen, erreichen nicht das Publikum in dem Maße, wie Reich-Ranicki es erreichte. Und vor ihm die Schonerwähnten. Uns geht ab, was ihm offenbar leichtfiel. Wir sind zu freundlich, zu fahrig, wir brennen mit zu kleiner Flamme. Wir sind die Kerzen, die den Rand des literarischen Weges beleuchten, er war das Feuer, an dem sich die Literatur wärmen konnte, wenn ihr kalt war. Und der Schein seines Feuer schnitt die Literatur aus dem Dunkel.
Er wird uns fehlen. Weil wir uns nicht trauen, zu sein, wie man sein muss, um wie er zu sein – oder weil wir es nicht können. Wir sind bestechlich durch die zu wichtig genommene Kenntnis von den Leiden des Schreibprozesses, zu nachlässig, weil auch wir Sätze schreiben, die er nicht hätte durchgehen lassen, zu freundlich, denn wir kennen oft die Probanden, deren Kinder auf unseren Schreibtischen liegen. Wir müssen uns bemühen, auch wenn es mühsam ist. Wir müssen, um der Literatur Willen, urteilen. Und seinen Satz, dass wir, die Kritiker, nicht die Mörder eines Buches sind, sondern lediglich die Leichenbeschauer, sollten wir verinnerlichen. Wir, wer denn sonst, haben die Aufgabe mitzuteilen, wie der vitale Zustand eines Werkes ist. Über die Diagnose mag man sich dann streiten. Aber sie muss getroffen werden. Wir sind keine Seelsorger. Das ist überhaupt nicht unsere Aufgabe.
Er wird uns fehlen. Seine Eloquenz, seine Beredsamkeit, seine klare Positionierung, die feldherrenartige Attitüde, mit der er seinen Sätzen befahl, Klarheit zu schaffen. Man denke nur an den Abend des Literarischen Quartetts, als er, zurecht, wie ich meine, nicht nur Murakami, sondern gleich die ganze Literatur davor bewahrte unter die ideologischen Weltsicht einer Rezensentin zu geraten. (Löffler). Auch das müssen wir von ihm lernen: Die eigenen Moral- und Wertvorstellungen nicht übermächtig werden zu lassen in der Beurteilung eines Werks. Den Menschen, der das Buch geschrieben hat, nicht für das Buch zu nehmen.
Es ist niemand da, der ihm nachfolgen könnte. Das braucht uns jedoch nur in gelindem Maße zu beunruhigen. Es wird schon einer kommen. Er, dieser Marcel Reich-Ranicki, aber bleibt uns. Auch als Lehrmeister. So wie Tucholski, Kerr, Krauss und davor Heine und einige andere, von denen wir lernen können zu lesen, zu beurteilen und ein breites Kreuz zu haben. Deshalb gilt für ihn: Gestorben ist er freilich; tot ist er nicht.
Foto: Smalltown Boy Quelle: Wikipedia