Das von dem französischen Philosophen Marc Sautet („Un café pour Socrate“) in Paris Anfang der 90er Jahre begründete Konzept eines philosophischen Konzepts hat in der Gestalt Lutz von Werders auch in Deutschland Fuss gefasst. Er selber organisiert seit knapp 18 Jahren mittlerweile ein solches Café, d.h. er bietet den Raum für eine interessierte Öffentlichkeit, sich der Philosophie zu widmen ohne sich in den akademischen Elfenbeinturm einschliessen zu müssen.
Aus dieser Praxis heraus ist auch sein aktuelles Buch „Existenzialismus jetzt!“ entstanden, in dem er basierend auf den Diskussionen und Veranstaltungen des philosophischen Cafés eine Revision des Existenzialismus unternimmt bzw. eine Aktualisierung dessen anstrebt. Im Vorwort schreibt er:
„Nach 17 Jahren mit rund 600 Sitzungen des Cafés von je 90 Minuten, an denen jeweils 80-160 Personen teilnahmen, zeigte sich: Eine neue Caféhaus-Philosophie ist entstanden Diese Philosophie hat einen historischen Ursprung. Es ist der alte Existenzialismus. (…) Der Existenzialismus hat sich in 17 Jahren tatsächlich erneuert. Der klassische Existenzialismus war pessimistisch, vereinzelnd und politisch meist konservativ. Der heutige Existentialismus steht links, ist optimistisch mit Trauerflor und wendet sich an alle“ (8).
Im Zuge von fünfundzwanzig Kapiteln, in denen er sich unter Referenznahmen auf die klassischen Vertreter des existenzialistischen Denkens (Sartre, Heidegger, de Beauvoir, Nietzsche etc.) und andere Lichtgestalten des philosophischen Denkens von Kant, über Marx bis Lyotard Themen wie „Ich“, „Spiritualität“ und „Tod“ widmet, entsteht jener Ansatz eines „Theorie“-Entwurfs – ein Begriff, den er wahrscheinlich selber verwerfen würde. Demnach zeichnet sich dieser modernisierte Existenzialismus aus durch folgende Grundsätze –
„1. Grundsatz: Die absurde Welt, wie wir sie heute kennen sollten, ist näher zu betrachten.
2. Grundsatz: Das starke Ich ist in der Rebellion zu entwickeln.
3. Grundsatz: Die schweigende Transzendenz ist zu akzeptieren, und die Spuren des eigenen philosophischen Glaubens müssen entdeckt werden.“ (161).
Im Zentrum steht dabei das rebellierende Individuum – der „antikapitalistische Wutbürger“. Hierbei bezieht sich Lutz von Werder explizit auf Camus’ „Der Mensch in der Revolte“. Erstaunlicherweise klammert Lutz von Werder Gabriel Marcel, den Vertreter des christlichen Existenzialismus weitgehend aus den Überlegungen aus, während er ansonsten den Kanon der Philosophie direkt und indirekt einbaut. Passagenweise möchte man ihm als Nietzsche-Schüler an den 137. Aphorismus vom zweiten Band von „Menschliches, Allzumenschliches“ –
„Die schlechtesten Leser. — Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das übrige und lästern auf das Ganze.“
– erinnern, da manch ein Zitat aus dem Kontext gerissen zu sein scheint.
Einen Schwerpunkt legt Lutz von Werder auf die spirituelle Ebene diesen „neuen Existenzialismus“. So behandelt er u.a. neben der den schwarzen und weißen Mystizismus auch immer wieder das Denken von Religionsstiftern und den Atheismus solches. Für ihn hat der Existenzialismus eine spirituelle Ebene, d.h. er spricht konkret vom Existenzialismus als einem philosophischen Glauben.
Seinem Anliegen folgend, eine Philosophie für jeden zu praktizieren, greift er zu mancher Verkürzung und Vereinfachung, die mir manchmal die Haare zu Berge stehen lassen. Sei es wenn er Existenzialismus und Existenzialphilosophie gleichsetzt sowie dann auch noch die Lebensphilosophie darunter subsummiert… Auch einzelne Formulierungen à la „Auch L. R. Hubbard mit seinem Versuch eine spirituelle Revolution als die neue Kirche ‚Sciencetologie’ zu entwickeln“ (35) scheinen mir zu unkritisch zu sein.
Dem Anliegen und dem Ziel seines Projektes tut dies keinen Abbruch. Sein gedichtartiger Essay, wie er selbst seinen Text im Vorwort beschreibt, ist als Diskussions- und Denkansatz spannend. Mich persönlich überzeugt der Versuch, eine für die derzeitige Krisensituation angemessene Form des Existenzialismus zu schaffen, nicht zu 100%. Dennoch ist es zweifellos ein ernstzunehmender Ansatz, Existenzialismus neu zu denken.
Maurice Schuhmann
Lutz von Werder: Existenzialismus jetzt! Eine Philosophie der Hoffnung, Schibri-Verlag Berlin / Milow / Strasburg 2012, 178 S., Preis: 14 Euro, ISBN: 978-3-86863-093-0.