Weder tot noch lebendig
Plastisch schildert der Verfasser einleitend eigene verstörende Kommunikationserfahrungen. Daran anknüpfend lässt Mertz die Entwicklung des Borderline-Begriffs erst einmal Revue passieren, um dann die bekannten diagnostischen Ansätze herb zu kritisieren. Seiner durchaus nachvollziehbaren Ansicht nach werden die üblichen eher statistischen Diagnoseverfahren (erhebliche Symptome in mindestens 4 von 7 Bereichen … ) dem Borderline-Syndrom nicht gerecht. Mertz greift daher auf die ursprüngliche Bedeutung des Borderline-Begriffs zurück, der Grenzlinie zur Psychose.. Die Psychose als in sich geschlossenes System einer ‚alternativen‘ Realität führt Mertz auf die dauernde oder zeitweise Unfähigkeit zu emotionaler Kommunikation zurück. Es mangele den Betroffenen offenbar an emotionaler Wahrnehmungsfähigkeit, die lange vor jeglicher Kognition den Unterschied zwischen Unbelebtem und Lebewesen vermittele. Daher rührt der Untertitel: „Weder tot noch lebendig“.
Der Autor stellt einen Zusammenhang zum Autismus her, den er als die extreme Variante des Borderline-Syndroms verortet. Mertz spannt einen Bogen über die vielfältigen Varianten des Autismus, um aus deren Verhaltensbesonderheiten eine Phänomenologie des Borderline-Syndroms zu entwickeln. Besonderes Augenmerk richtet er dabei auf den ‚blanden‘ Typus, der durch ein eher unauffälliges Erscheinungsbild charakterisiert ist. Den Grund dafür, dass Kliniker eher selten mit ihm konfrontiert werden, sieht Mertz in seinem Bedürfnis und seiner Fähigkeit, sich an gesellschaftliche Normen anzupassen. Mertz nimmt in diesem Zusammenhang auch Bezug auf die Figur des ‚Tiefensimulanten‘, die Helene Deutsch erstmalig beschrieben hat.
Bei aller Fülle an diagnostischem Material wird der interessierte Leser therapeutische Ansätze anfänglich vermissen und erst in den Details der Fallschilderungen da und dort etwas entdecken. Da der Autor selbst diesbezüglich eher pessimistisch ist, konzentriert er sich auf die Suche nach Möglichkeiten zur Prävention und den Ursachen der Erkrankung, die er in einer Schädigung des Embryos oder des Kleinkinds durch emotionale Distanz der Mutter bzw. des ‚Primärversorgers‘ vermutet. Darüber hinaus sieht er dabei auch Zusammenhänge mit dem ‚Plötzlichen Kindstod‘.
Zum Abschluss stellt Mertz das Borderline-Phänomen in einen gesellschaftlichen Zusammenhang. Seinem Ansatz einer schon fötal einwirkenden Schädigung folgend erscheint nicht nur ihm der Umstand, dass rund drei viertel der im Psycho-Buisiness ankommenden Bl – Patienten weiblich sind, mehr als erklärungsbedürftig. In Ermangelung von systemischen Begründungen lenkt der Autor den Blick des Lesers auf das gegenwärtige soziale Umfeld. Hier, in der Postmoderne, finde der meist männliche emotional gehemmte eine Umgebung, die seine Behinderung als ‚Leistung‘ erscheinen lasse. Die öffentliche Anerkennung dieses Typus‘ bewertet Mertz in sarkastischer Weise als ‚Resozialisierungsprogramm‘ für blande Borderliner. Diese, seine Perspektive, eröffnet einen mitunter verstörenden Blick auf die emotionale Verwahrlosung speziell der so genannten Funktionseliten.
Dem geneigten Leser mit etwas Vorerfahrung offeriert der Autor ein reichhaltiges Bouquet an „Déja-Vues“ und verzichtet soweit möglich auf das übliche psychoanalytische Fachvokabular. Stattdessen bedient sich Mertz eines fabulierenden, lebendigen Erzählstils, der es dem Leser erleichtert, dem Autor zu folgen. Das ist zugegebenermaßen nicht immer einfach. Die schiere Überfülle an Details und eine gewöhnungsbedürftige Systematik, die sich zudem nicht durchgängig im Inhaltsverzeichnis widerspiegelt, erschweren den Zugang.
Die Vermutung liegt nahe, dass dieser Umstand neben Mertz‘ Totalverriss der klassischen Psychoanalyse für die eher sparsame Rezeption verantwortlich ist. Ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung – und obwohl die Erstauflage schon seit einiger Zeit vergriffen ist – haben seine Gedanken zwar offenbar Eingang in die Anthropologie und Kulturphilosophie gefunden, doch Rezensionen und Bezugnahmen im psychotherapeutischen Umfeld sucht man weitgehend vergeblich.
J. Erik Mertz
„Borderline – Weder tot noch lebendig…“
Thieme Verlag Stuttgart 2000
ISBN-13: 978-3131259516