Hier und Jetzt!
Seit ein paar Jahren findet in der anarchistischen Bewegung ein neuer Schub der Theoriebildung und Reflexion der eigenen Entwicklungen statt. Es haben sich neue Strömungen wie z.B. der Postanarchismus oder Pananarchismus herausgebildet und eine neue Form der Auseinandersetzung mit der klassischen Theorie des Anarchismus hat sich herauskristallisiert. Eine neue Generation von Anarchist_innen, die geprägt sind durch Erfahrungen mit Anti-Gipfelprotesten, das Aufkommen der zapatistischen Bewegung und die Sozialisation in jugendlichen Subkulturen (Anarchopunk, Straight Edge, Hardcore) hat die Generation von 1968 sowie der 70er/8er Jahre abgelöst. Der 1976 geborene Uri Gordon, der mittlerweile als Dozent am Arava Institute for Enviromental Studies in Keture (Israel) tätig ist, gehört zu jener Generation. Seine Analyse „Hier und jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie“ versucht eine Bestandsaufnahme des sog. Neo-Anarchismus zu liefern – sowohl von dessen Theorie als auch derer Praxis. Über seine Ausgangsbasis schreibt er: „Falls es irgendwem entgangen sein sollte: Der Anarchismus ist ausgesprochen lebendig und präsent. In den vergangenen zehn Jahren ist erneut eine globale anarchistische Bewegung entstanden, und dies in einem Umfang mit einer Einigkeit einerseits und einer Vielfalt andererseits, wie es das seit den 1930er Jahren nicht mehr gegen hat.“ (7f.) [Der Bezug auf die 30er Jahre zeigt von einer unglaublichen Unkenntnis der anarchistischen Geschichte – in Portugal und Italien, zwei Hochburgen des europäischen Anarchismus, war zu diesem Zeitpunkt der organisierte Anarchismus schon weitgehend durch den Faschismus zerschlagen, in Deutschland war die Mitgliederzahl von anarchistischen Organisationen auf ein Minimum gesunken bzw. der Repressalien durch den Natioanlsozialismus ausgesetzt – anarchistische Strömungen in Asien wie in China erlebten nach einer kurzen Hochphase auch eine Flaute etc..] die klassischen Anarchisten (Bakunin, Kroptokin, Landauer…) tauchen sowieso als Bezugsrahmen nur vereinzelt auf.
Ausgehend von der Problematisierung, dass sich viele Strömungen und Richtungen, die sich von ihrem Vorgehen bzw. ihrer Organisationsform dem des Anarchismus nahestehen, sich nichtauf diese Tradition berufen. „Es ist etwas riskantm Begriffe wie ‚anarchistisch‘ oder ‚Anarchismus‘ auf eine Gruppe von Mensche anzuwenden, die sich selber nicht ausdrücklich als Anarchisten bezeichnen würden oder diese Zuschreibung sogar eher meiden. Worte sind letztendlich bedeutsam, und der Umstand, dass alle möglichen positiven Begriffe einzig und allein benutzt werden, um nicht ‚Anarchismus‘ sagen zu müssen, verdient es, näher untersucht zu werden“ (23). Als Bezugsrahmen für sein Anarchismusverständnis greift er auf einzelne Diskussionsansätze innerhalb der Bewegung zurück – z.B. direkte Aktion, Herrschaftskritik und Netzwerkstruktur, worunter seine Arbeit etwas leidet. Es fehlen konkrete Eckpfeiler, anhand derer sich eine Analyse langhangeln könnte. Sein Rückgriff auf Organisationsformen wie Netzwerke und Bezugsgruppenstrukturen, das Direct Action!-Postulat oder den D.i.Y.-Gedanken, der sich aber ohne emanziptaorischen Gehalt auch im „Selbst-ist-der-Mann“-Slogan wiederfinden läßt, sind etwas zu wacklig und zu breit, um daraus eine Definition für modernen Anarchismus zu schmieden. Er verläuft sich streckenweise in einer szenetypischen Schwammigkeit, die ihn selbst selbst explizit-antianarchistische Strömungen wie die italienischen „Tutti Bianchi“ zum Spektrum rechnet, die wiederholt an gewaltsamen inner-linken Auseinandersetzungen gegen italienische Anarchist_innen beteiligt waren.
Ebenso ist der Bezug auf eine problematische „Esotante“ wie Starhawk, die sich ihre Auftritte bei Polittagungen von einer kommerziellen Agentur organisieren läßt, alles andere als diskussionswürdig und anarchistisch. Es wäre wahrscheinlich hilfreicher gewesen, eine Unterscheidung zwischen libertären, anarchophilen und anarchistischen Strukturen einzuführen – die er wie oben zitiert nicht gelten läßt. Viele der von Uri erwähnten Beispiele fallen eher unter die Rubrik des Libertären als unter das Label Anarchismus. Ebenso wie bei der Begriffsbestimmung weist er bei der allgemeinen theoretischen Reflexion einige blinde Flecken auf. Gerade der klassische Nach-68er Anarchismus, der sog. „Neo-Anarchismus“, müßte einer kritischen Untersuchung unterzogen werden – was u.a. sich in Murray Bookchins Kritik am „Lifestyle-Anarchismus“ schon antizipiert findet. Vieles von dem, was zu dieser Strömung gezählt wird, ist ein Potpouri aus linker Theorie, die nicht unbedingt stringend anarchistisch ist bzw. z.T. auch in Grundannahmen deutlich von den Prinzipien abweicht. Gordon deutet dies ins Positive um und erklärt: „Vielleicht ist das auffälligste Merkmal des neuen Anarchismus, der auf diese hybride Genealogie zurückgeht, die Verallgemeinerung der Zielrichtung anarchistischen Widerstands, der sich nicht nur gegen den Staat und den Kapitalismus wendet, sondern gegen jede Form von Herrschaft in der Gesellschaft“ (52). Auf diesem Wege stellt er eine Verbindung von kampagnenorientierten Projekten aus den Neuen Sozialen Bewegungen und dem Anarchismus her, was z.T. einer impliziten Vereinnahmung eigenständiger Strömungen gleichkommt. Seine Wahrnehmung ist dabei sehr stark auf öffentlichkeitswirksame Strömungen fixiert und vernachläßigt die vielen kleinen lokalen Strukturen – wie z.B. Selbstverwaltungsstrukturen, die das Postulat des „Hier und jetzt“ bereits sehr stark versuchen in ihre Alltagspraxis zu integrieren. Seine Darstellung ist zwar lesenswert, wenn man sich für aktuelle linke Strömungen und deren Praxis interessiert, aber als eine Auseinandersetzung mit einem modernen Anarchismusverständnis habe ich Schwierigkeiten mit diesem Buch. Auch wäre eine Kritik jener Strömungen von Relevanz gewesen.Gordons Erfahrungen in sozialen Bewegungen und Strömungen teilend tendiere ich für eine andere Einordnung dieser als in das explizit anarchistische Spektrum – trotz einiger Sympathien. Auf wissenschaftlicher Ebene enttäuscht er mich mit seinem etwas ungezwungenen, beliebig wirkenden Umgang mit den Methoden und Begriffen. Er liefert interessante Denkanstösse, die es lohnt weiter zu verfolgen – u.a. bezüglich des Machtbegriffs, aber leider sind seine Ausführungen dazu teilweise etwas verkürzt und schwammig. Interessant ist auch seine Auseinandersetzung mit dem Nahost-Konflikt aus anarchistischer Perspektive. Im letzten Kapitel – über anarchistische Perspektiven im Nahost-Konflikt liegt sehr viel Potential, das sich lohnen würde weiter auszuarbeiten.
Der Rest ist von zwiespältiger Qualität. Schade, ich hätte insgesamt von Uri Gordon mehr Qualität erwartet. Streckenweise ist seine Deskription und Analyse einfach nur ärgerlich – z.B. bezogen auf die Gewaltdiskussion, wo er wesentliche Diskussionsansätze nicht zur Kenntnis genommen haben zu scheint. Eine generelle Frage, die sich nach der Lektüre stellt, ist zudem: Für wen ist dieses Buch geeignet? Die Kenntnis vieler Begrifflichkeiten und Ereignisse wird von Gordon vorausgesetzt – u.a. der libertären Anasätze bei britischen Earth First!-Netzwerk und deren Unterschiede zum amerikanischen Netzwerk. Selbst für einen Aktivisten wie mich, der seit Jahren an den Diskursen teilnimmt, erschliesst sich nicht jeder Anknüpfungspunkt von selbst. Hier hätte sich die eine oder andere Fußnote gelohnt.