Annäherungsversuch an Mati Shemoelofs Gedichtband: »Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe«
von Peter H. E. Gogolin
Wie schreibt man über das Militär und den Krieg, diesen menschenfressenden Leviathan, noch dazu im Gedicht? Gibt es überhaupt Worte, die nicht zwangsläufig zu weit hinter der Realität zurückbleiben müssen, um wahr sein zu können?
Vielleicht so, wie Mati Shemoelof im dritten Poem seines neuen Gedichtbandes. Da heißt es:
Das Weinen des Soldaten und das Weinen des Besiegten
lassen sich niemals vergleichen
und dennoch weinen sie beide heute Nacht
und nur die Erde weiß zu unterscheiden
welche Dichter mit ihren Tränen
und welche mit ihren Fäusten schreiben
das Gedicht, das heut Nacht auf beiden Seiten des Leviathans
entstand
durchquert den Himmel:
ihm war das Wort »Grenze«
noch nie ein Begriff.
Ja, denke ich, so könnte es gehen. Und weiter denke ich, dass Shemoelof wohl den Soldaten und den Besiegten in seinem Gedicht nicht auf gegnerischen Seiten des Leviathans sieht, denn er lebt ja als arabisch-jüdischer Autor gezwungenermaßen auf beiden Seiten.
Nun handelt sein Gedichtband durchaus nicht nur vom Krieg, aber das dritte der insgesamt fünf Poeme seines neuen Bandes widmet der Dichter auf eindrucksvolle Weise seiner Zeit in der Armee, und es spricht wohl für sich, dass mich seine Verse so sehr betroffen haben, dass ich selbst in die Vergangenheit zurückgereist bin.
Als ich die Verszeile las
Du verschlampst deine persönliche Erkennungsmarke
kramte ich, ganz hinten, aus der untersten Schreibtischschublade meine eigene Erkennungsmarke hervor. Ja, tatsächlich, es war alles noch da, der sogenannte Wehrpaß, der Bekleidungsnachweis für meine Kampfausstattung, die Schulterstücke mit den Dienstgradabzeichen und eben auch die Erkennungsmarke. Durch die eingestanzte Nummer 30815 wäre im Falle des Todes meine Identität rekonstruiert, damals, vor 50 Jahren, als ich dieses Ding um den bloßen Hals trug.
Auch sein Gedichtband ist solch ein Versuch der Rekonstruktion der eigenen Identität. Wieviel Tode er zuvor hat sterben müssen, die Verse lassen es erahnen.
Gedichteschreiben bedeutet Dreck in der Bauchhöhle des Leviathans
schreibt Mati Shemoelof
es ist eine Operation am offenen Herzen der Poesie, der
Dichter spielt
alle Rollen, ist: Chirurg und Patient
der Angehörige, der voller Sorge draußen vor der Tür wartet
der Sanitäter, der die Leiche ins Kühlhaus bringt
der Bestatter, der den Toten beerdigt
der Journalist, der über den Soldaten schreibt, der sich das
Leben nimmt
Ich habe in meinen Romanen viel über den Krieg geschrieben, ein Gedicht jedoch niemals. Und auch über einen einzelnen Soldaten schrieb ich nicht. Das dritte Poem in Shemoelofs kleinem, großartigen Gedichtband hat mir die Augen dafür geöffnet, dass ich es wohl endlich tun muss. Ähnlich bewegt hat mich ein Gedicht noch nie.
Der Dichter wurde 1972 in Haifa geboren; ich selbst war da schon seit zwei Jahren Soldat. Er ist arabisch-jüdischer Herkunft. In Israel hat er insgesamt 10 Bücher veröffentlicht: sieben Gedichtbände, eine Sammlung mit Kurzgeschichten, einen Essayband und einen Roman, den ich gern lesen würde. Seit zehn Jahren lebt er in Berlin, wo er erwartet, vom »Gott der Ausländerbehörde« gerichtet zu werden.
Aber der Gedichtband »Das kleine Boot in meiner Hand nenn ich Narbe« versammelt insgesamt fünf Poeme. Es sind auf Hebräisch geschriebene autobiographische Langgedichte, die mit einer 19strophigen sprachmächtigen Erinnerungssequenz beginnen, in der der Dichter das Bild seines verstorbenen Vater beschwört, der als Verkäufer im »Königreich der Armut« lebte, »in den verdreckten Straßen der Unterstadt von Haifa.« Was in diesem ersten Poem entsteht, das der Dichter »Vom Spinnen eines Königreichs der Armut in der Unterstadt der Poesie« betitelt, ist nicht weniger als das zum bleibenden Bild gewordene Wort. Und damit zum Überleben des Vaters im Buch.
Jetzt verstehe ich – nicht du hältst das Buch in Händen
sondern es ist das Buch, das dich am Leben erhält
darum schreibe ich noch ein Buch, das auch mich halten mag
und eines Tages werde ich selbst zum Wort
auf einem Blatt, ein Foto, fallendes Laub.
Der Dichter ist hier Paul Auster sehr nahe, wenn er schreibt: »Die Toten können nicht ins Leben zurückgeholt werden. Aber sie können gehört werden, und ihre Stimmen leben im Buch.«
Schreiben ist Totensuche, denke ich.
Dem Erinnerungsgedicht an den Vater steht in der Symmetrie des Gedichtbandes am Ende der fünfte Teil gegenüber. »Kann mich nicht niederwerfen aufs Grab meiner Großmutter« nennt Shemoelof dies fünfte Poem, mit dem er zugleich in der Gegenwart unserer Corona-Jahre angekommen ist, denn an der Beerdigung der Großmutter Rachel Chasas, die am 22.3.2020, dem 2. Nissan 5780, starb, hat er nicht teilnehmen können.
Das Grab des Gedichts öffnet sich und schließt sich wieder
du willst ihr ein Abschiedslied auf Aramäisch singen
das Hirn des Herzens zerbirst – so klar ist die Erinnerung,
wie sie lacht
So entsteht mit diesem Gedichtband ein Familienporträt, das dem vertriebenen Dichter zur Selbstvergewisserung dient. Wie sehr wir uns darin ähnlich sind, habe ich nicht zuletzt durch die »Singer-Nähmaschine« erkennen müssen, durch diese »unentwegt rappelnde, surrende Zeitmaschine« seiner Großmutter, denn auch im Hause meiner eigenen Großmutter stand solch eine Maschine, im ungeheizten Zimmer meiner Geburt, von der die Mutter erzählte.
Dass neben so viel Vergangenheit, Verlust und Tod auch das neue Leben seinen Platz behaupten kann, verdankt sich dem zweiten Poem im Band, das Shemoelof »Die Poesie erreicht den Kreißsaal« überschrieben hat. Es ist der Geburt der Tochter gewidmet, durch die sein Gedicht »eine ganz neue Güte des Geschriebenen« erreicht, wie es im Eingangsvers dieses Poems heißt.
Ich kenne ein Mädchen, das mir eine Heimat schenkt
ich kenne ein Mädchen, das in meine Poesie einging
ich kenne eine Kleine, mit der ich in einer uralten Sprache
rede, ihr
jeden Tag Worte einer neuen Liebe zu sagen
Nach diesem zweiten Poem, das für mich zum Schönsten des ganzen Bandes gehört, folgt seltsamerweise das bereits eingangs vorgestellte dritte, in dem Mati Shemoelof seine Zeit beim Militär reflektiert. Aber vielleicht liegt es an mir, wenn ich diese Reihenfolge der Poeme nicht unbedingt schlüssig finde. Es gibt durchaus eine mögliche Verbindung, die dazu geführt haben mag, dass auf die Geburt der Tochter der Militärdienst folgt, denn der Dichter versucht im dritten Teil auch seinen ethischen Standort zu bestimmen, der letztlich – das kenntnisreiche Nachwort von Yochai Oppenheimer klärt darüber auf – dazu geführt hat, dass er sich als Soldat in einem Panzerkorps am Stützpunkt in Ma’ale Adumim dem Dienst in den besetzten Gebieten verweigerte. Was könnte zwingender die Fragen nach der eigenen Verantwortung wachrufen, als die Geburt neuen Lebens?
Mich beeindruckt diese Verweigerung deshalb, weil ich selbst wohl anders reagiert hätte. Ich hatte vor Jahren am Jerusalem-Tag an der Westmauer, der sogenannten Klagemauer, gebetet und später meinem ältesten Sohn davon erzählt. Ja, sagte er, im selben Jahr war auch ich dort, aber mich haben die vielen Waffen gestört, wie kann man so zum Beten gehen? Mich hat seine Haltung damals geärgert. Natürlich haben die jungen Soldaten ihre Waffen bei sich, antwortete ich meinem Sohn. Und mich beruhigt das eher, denn ich bin sicher, diese Generation wird sich von niemandem vernichten lassen. Die Aggressivität, mit der ich das sagte, kann ich heute noch spüren.
Die beiden Fälle sind nicht vergleichbar. Und inzwischen hat das verheerende Zeitgeschehen mit dem Krieg in Gaza alles eingeholt und weit, weit überholt. Der Dichter Mati Shemoelof lebt längst im »Kibbuz Berlin«, wovon er im vierten seiner Poeme erzählt. »Babylon-Berlin – Du sollst den Turm zu Babel lieben mit ganzem Herzen und in gebrochener Sprache« hat er es überschrieben.
Wie kann das gehen? denke ich, während ich nochmal den schmalen und doch so mächtigen Band seiner Gedichte durchblättere, um zu sehen, ob ich etwas vergessen habe. Das »kleine Boot in meiner Hand« fällt mir ein, aber ich denke, nein, das erklärst du nicht, das sollen die Leser selbst herausfinden. Und dann stoppt der blätternde Daumen bei der Verszeile »Ich habe Angst vor denen, die mich in die Sprachlosigkeit drängen«. Ja, das kenne ich auch. Und nicht erst seit dem perfiden Terrorakt der Hamas und dem Gaza-Krieg, schon der Beginn des Ukraine-Krieges hat mich in solch eine Sprachlosigkeit getrieben. Deshalb bin ich Mati Shemoelof dankbar für seine Gedichte, die so offen seine Narben zeigen.