Es gibt unterschiedliche Gründe, die Biographie eines Musikers zu lesen. Im Regelfall sind es drei wesentliche Gründe für die Lektüre:
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Der betreffende Musiker ist ein Idol / Vorbild.
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Der betreffende Musiker hat Musikgeschichte geschrieben, d.h. er hat maßgeblich eine Musikrichtung bestimmt.
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Das Leben des betreffenden Musikers steht beispielhaft für eine Entwicklung oder musikalische Subkultur. Aus seinem Leben kann man Hintergründe und Entwicklungen herauslesen, die eine Generation oder Subkultur prägten.
Im Falle von Boff Whalley ist es der dritte Grund, der seine kürzlich bei Edition AV publizierte (Auto-)Biographie spannend macht. Der ist Gründungsmitglied und Gesang / Gitarre der Folk-Pop- Band Chumbawama, einer der Bands, die trotz linksradikaler Inhalte ihrer Texte und öffentlichen Solidaritätsbekundungen mit den Kämpfen linker Strukturen es in die Charts geschafft haben und selbst von unpolitischen und kommerziellen Medien bejubelt wurden. Sie lieferten mit ihrem Song zum „Buy nothing day“ oder „Enough is enough“ einen Soundtrack zur linksradikalen Politik der 90er Jahre und des Beginns des 21. Jahrhunderts.
Boff Whalley wuchs in einem religiösen religiös geprägten Umfeld auf. Inspiriert durch die Musik und Ästhetik der 77er Punkrockgeneration, die auf ihn wie für viele seiner Generation einen prägenden Eindruck hinterließ, setzte bei ihm ein Umdenken ein. Gepaart mit seiner Entdeckung des Anarchismus, die er sehr spritzig beschreibt, kann dies als die Initialzündung für seine musikalische Entwicklung betrachtet werden, die 1982 mit der Gründung von Chumbawamba . In einem flappsig, gut zu lesenden Stil beschreibt er prägende Ereignisse und Entwicklungen seines Lebens – von der Schulzeit auf einer religiösen Schule bis hin zu seinem Leben in der musizierenden Kommune (ähnlich des Grundgedankens von „Ton Steine Scherben“), die als Chumbawamba ein Stück weit auch Musikgeschichte geschrieben hat. An manchen Stellen fehlt mir dabei allerdings die kritische Reflektion – z.B. wenn er erstmalig über ein Konzert der Oi!-Heroen Cockney Rejects schreibt, jener Band, auf die der kolportierten Legende nach der Begriff „Oi!“ zurückgeht. Andere Passagen hingegen weisen intelligente und pointierte Kritiken bereit.
Allgemein hinterlässt jene 2004 erstmalig erschienene Autobiographie ein zwiespältiges Gefühl beim Lesen. Whalley beschreibt subjektiv seine Wahrnehmungen und unterlässt (bewusst) eine Einordnung dessen in einen größeren Kontext. Vor diesem Hintergrund wirkt es sehr authentisch und sympathisch, was er schreibt, aber für den bislang wenig mit den Hintergründen der entsprechenden Subkultur- und Musikgeschichte vertrauten Leser eine etwas schiefes Bild der Generation vermittelt bzw. wenig Anker bietet, das niedergeschriebene einzuordnen. Wer sich mit der Geschichte des Punkrocks oder der Bandgeschichte von Chumbawamba auseinanderzusetzen will, hat sicherlich einiges in seiner Biographie zu entdecken. Für alle anderen wäre es ratsam, sich neben der Lektüre des Buches auch mit weiterführender Literatur zu beschäftigen. Nichts destotrotz ist diese Biographie ein echtes Lesevergnügen mit seinen vielen lustigen Anekdoten über die Freaks, die er in seinem musikalischen Werdegang erlebt hat.
Die hier vorliegende Veröffentlichung von AV weist leider einige Schwächen auf, die es zu benennen gilt. Aufgrund der prekären Finanzlage des Verlages wurde leider an einem adäquaten Korrektorat und Lektorat gespart. Das Buch wimmelt von Tippfehlern und weist einige holprig-übersetzte Passagen auf. Ebenso hätte man sich von der Übersetzerin die eine oder andere zusätzliche Anmerkung gewünscht. Einige der von Whalley als wichtigen Einfluss auf ihn benannten Bands sind heute bzw. in Deutschland kam bis gar nicht (mehr) bekannt. Hier würden kurze Anmerkungen über die Bedeutung der Bands für die damalige Zeit bzw. über ihren Hintergrund das Verständnis für den Leser erleichtern.
Infos zur Band: www.chumba.com
Boff Whalley: Anmerkungen* zu Chumbawamba und mehr, Edition AV Lich 2009, 264 S., Preis: 18 Euro, ISBN: 978-3868410211.