Er ist ein Fliehender, der die Kontinente durchquert.
Von den Hoffnungen bewegt ihn nur die eine,
dass das Kommende weniger schrecklich sein möge, als das, was ihn vertrieb.
Wenn ihm des Nachts der Schrecken ans Herz greift,
liegt er in der Dunkelheit und bittet, dass sie vergeht.
Vorhersehen kannst Du ihn nicht. Doch ist er überall.
Er steht vor Dir wie eine Überraschung, die Dir die Sprache
verschlägt. Er kann sein, ein serbischer Friseur
im Untergeschoss des Einkaufscenters, der Dir das Rasiermesser
an den Hals setzt und dabei von seiner Emigration erzählt.
Oder der pakistanische Taxifahrer, den Du auf dem Weg zum Flughafen fragst,
wieviel Sprit er täglich für die Klimaanlage verbraucht,
und der Dir erzählt, dass er und Gott Schwule nicht mögen.
Was für Wege hat er nicht zurückgelegt,
vom Tag seines Aufbruchs in Gujrāt bis zu diesem sonnigen Nachmittag,
da sein Sohn anruft, der einen Studienplatz bekommen hat.
Der Engel eines jeden Jahres weiß, dass Du Dich schämst,
wenn er vor Deiner Tür steht. Aber geschlossene Türen,
hinter denen die Scham wohnt, sind ein Luxus, um den er
Dich nicht beneidet. Seine Füße, die ihn durch die Länder
tragen, gehen mit Vorsicht, zaghaft, tastend, bei jedem
Schritt, ob da noch fester Grund ist, der nicht brennt.
Peter H. E. Gogolin, 14. September 2020