Pornographie und Klassenkampf

Der Titel „Pornographie und Klassenkampf“ wirkt schon sehr effekt-hascherisch. Der Untertitel „Für eine materialistische Psychologie“ relativiert das Ganze ein wenig. Dieter Dehm, ehemaliger Politiker von SPD und PDS/Die LINKE sowie Liedermacher (u.a. Beteiligung an dem Song „1000 und 1 Nacht (Zoom)“), selber schreibt im Vorwort seiner Darstellung über materialistischen Psychologie: „Die Klassiker Marx, Engels, Lenin, Gramsci und einige andere hatten dazu zwar Einzelhinweise und ein riesiges Instrumentarium erarbeitet und für uns bereitgestellt, um auch diese ‚Frage aller Fragen‘ zu lösen, aber sie nicht selbst gelöst“ (13). Den schweren Ballast von Marx-Engels-Lucasz mit sich schleppend nähert er sich der Thematik, wobei der andere zentrale Begriff – der, der „Pornographie“ – etwas farblos bleibt. Er definiert diesen in der Tradition von der sexnegativen Feministin Andrea Dworkin – ohne sie selbst zu nennen. „Die Wortbedeutung von Pornographie stammt aus dem Altgriechischen und meint: schriftliche oder bildliche Darstellung von oder über bezahlte Gespielerinnen. […] die ‚Porne‘ arbeitete hingegen prekär. […] Die ‚Porne‘ hingegen wurde wohl schlechter bezahlt, weil sie ‚bildungsferner`und ein eingeschränkteres ‚kulturelles Ambiente‘ zu liefern in der Lage.“ (39). Gut hundert Seiten später heißt es dann über die Pornographie: „Wer der Pornographie als allenfalls hormon-gestützten Sozialverhalten auf die Spur kommen möchte, muss zunächst die Dialektik der entfremdeten und entfremdenden Arbeit und die Reproduktion von Körper und Psyche durchschauen“ (134). Der Pornographie wird damit sehr schwammig und eignet sich für eine Analyse nicht.

Generell stellen die feministische Ansätze zur Bewertung von Pornographie einen weissen Fleck in der „materialistischen Psychologie“ von Dehm dar. Da reisst auch ein einmaliger Verweis auf Susan Sontag oder die lobende Erwähnung des konkursbuch Verlages nicht heraus.

Allerdings muss er auch eingestehen: „Bei unseren Klassikern kommt (wie gesagt: leider) das Feld ‚Sexualität‘ (allenfalls prüder als ‚Liebesverhältnisse‘) nicht direkt vor. Nur die von ihnen empfohlene Belletristik (Goethe, Heine, Balzac, Tolstoi) nährt das Feld der ‚Liebe‘ – und nährt sich davon. Gleichwohl ist das Feld von der materialistischen Theorie so unterbelichtet wie von bürgerlichen Seelenspekulanten egovergötzend, freudianisch und naturpositivistisch überbevölkert“ (61). Vor dem Hintergrund kommt natürlich die, von ihm nicht beantwortete Frage auf, was dann der Rückgriff auf die Klassiker bringen soll – und warum er nicht neuere Werke und Theorieansätze reflektiert.

Dabei geht er von „der“ Pornographie solcher aus, d.h. es findet weder eine Abgrenzung zur Erotik noch eine Binnendifferenzierung innerhalb des Genres statt. Dies entspricht auch immanent seinem Vorgehen, was auf dem Rückcover mit den folgenden Worten beschrieben wird: „Aus marxistischer Sicht schreibt er [Dieter Dehm] eine ‚materialistische Psychologie und erklärt, wie Arbeit und Geschichte auf die einzelne Persönlichkeit einwirken, wie schmutzige Fantasien aus schmutzigen Verhältnissen entstehen und sexuelle Entfremdung aus sozialer“. Im Text selber liest sich dies dann wie folgt: „Wer erkannt hat, dass Lohn- und Zeitregimes sich die Sexualhormone zurichten (und weniger umgekehrt), wird die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Marx, Engels und Lenin haben nämlich nicht nur den aufbegehrenden Teilen der werktätigen Klassen in den verschiedenen Zeiten und Nationen den wesentlichen Schatz für deren Intelligenzarbeit hinterlassen, sondern auch – als wahre Humanisten – der gesamten Menschheit. Weil sich vom objektiven Klassenkampf kein Mensch bislang je hat ausschließen können, will auch die individuelle Psychologie vom marxistischen Instrumentarium bearbeitet und neu erkannt werden“ (32). Diese These ist nichtwirklich neu – und die zu Grunde gelegte Literatur kann auch partiell als veraltet und überholt gelten.

Insgesamt fällt auf, dass neuere wissenschaftliche Ansätze und Diskussionsstränge nicht berücksichtigt wurden. Günter Armendt, einem der sexuellen Aufklärer der APO, ist dieses Buch auch gewidmet, was Bände spricht. Bei aller damaligen Bedeutung die dieser 2011 verstorbene Sozialwissenschaftler hatte, müssen sie aus heutiger Sicht als überholt gelten. Andere Referenzen wie die Apothekerzeitschrift und Netdoktor sind auch nur bedingt relevante Ressourcen.

Das sehr knapp ausgefallene Vorwort – „Brutale Gesellschaft, brutale Bilder“ – für die Darstellung von Dieter Dehm hat die Autorin und Journalistin Sabine Kebir geschrieben, die er selber wiederholt als Referenz für seine Untersuchung benennt. Es bietet leider keinen wirklichen Mehrwert für die Lektüre.

 

Dem reißerischen Titel „Pornographie und Klassenkampf“ wird der Text in keinerlei Hinsicht gerecht. Es wird wortreich ein gängiger Ansatz dargestellt, der insgesamt selten mit entsprechender Forschungsliteratur untermauert wird. Der Begriff „Pornographie“ an sich wirkt partiell wie ein Überbegriff, unter dem klassische Pornographie, „Perversion“ und Prostitution subsummiert werden. Er gerät trotz der ihm zugeschrieben zentralen Bedeutung ziemlich in den Hintergrund. Vor einigen Jahren / Jahrzehnten hätte dieses Buch ein gewisses Potential gehabt, heute wirkt es in der Erstauflage bereits weitgehend veraltet. Schade….

Maurice Schuhmann

Dieter Dehm: Pornographie und Klassenkampf. Für eine materialistische Psychologie, Promedia Wien 2023, 312 S., Preis: 28 €, ISBN: 978-3853715123.