von Peter H. E. Gogolin
»Romane sind aus Lügen gemacht, wie ein Tisch aus Holz.« notierte Julien Green etwas boshaft in sein Tagebuch, nachdem er seinen bedrückend wahren Roman Leviathan 1929 veröffentlicht hatte. Mir leuchtete dieser Satz, als ich ihn vor Jahrzehnten erstmals las, unmittelbar ein, denn nichts eignet sich besser, eine Wahrheit zu verstecken, als ein Sack voller Lügen. Schriftsteller sein heißt, dachte ich, um der Wahrheit willen, ein Händler von Lügen zu sein. Denn dass man die Wahrheit nicht einfach ungeschützt und unverborgen aussprechen konnte, bedurfte für mich keiner Erklärung, war ich doch, seit meinen ersten unvollkommenen Schreibversuchen, der mütterlichen Zurechtweisung ausgesetzt gewesen: Wenn du schon unbedingt schreiben musste, dann aber nicht über uns.
Ich hatte Greens Diktum für mich sogar auf die Familie ausgedehnt, denn nirgendwo gibt es mehr Verschwiegenes, Tabuisiertes, ja Unaussprechliches, als in Familien. Darin ähneln sie totalitären Staaten. Wer das nicht glaubt, muss wohl unter Engeln aufgewachsen sein, dachte ich, denn Familien sind aus Lügen gemacht.
Etwas weniger boshaft ausgedrückt müsste der Satz natürlich »Romane/Familien sind aus Fiktionen gemacht« lauten. Aus Fiktionen, wie alles, was der Homo Sapiens seit Beginn der kognitiven Revolution vor 70 000 Jahren geschaffen hat. Götter, Religionen, Staaten, Institutionen usw. Der Mensch, das einzige Tier, das Geschichten erzählt. Was vom ersten Moment an auch immer geheißen hat, Geschichten von Dingen, die es gar nicht gibt.
Heute ist das Schaffen fiktiver Welten den Autoren überlassen. Schriftsteller wählen sich dies als ihre Aufgabe und Freiheit, wobei die Grenzen dieser Freiheit stets von der Gesellschaft gezogen werden. Gustave Flaubert musste sich für die wahre Darstellung des Frauenlebens im 19. Jahrhundert noch vor Gericht verantworten. Aber hätte er Emma Bovarys Schicksal nicht fiktionalisiert, so wäre er am Ende gewiss nicht freigesprochen worden. Literarische Fiktionalisierungen bieten also, wo sie nicht einfach aus Konvention als Formprinzip genutzt werden, auch immer die Möglichkeit, etwas auszusprechen, was sonst gar nicht oder nur schwer sagbar wäre, selbst wenn der Autor nicht unter Bedingungen von Zensur und politischer Verfolgung zu schreiben gezwungen ist.
Soweit sicher nicht unbedingt neu. Auch für mich nicht, hatte ich doch ausreichend viele Romane geschrieben. Aber da gab es etwas, und zwar zeitlebens, das sich, trotz der befreienden Möglichkeiten des Erzählens fiktiver Geschichten, einfach nicht erzählen lassen wollte.
Das war in extremer Weise der Fall bei meinem in diesen Wochen abgeschlossenen biographischen Roman „Ein paar Dinge, die ich von mir, meinen Eltern und Auschwitz weiß“. Der Titel enthält in gewisser Weise schon die Lösung des Problems, von dem ich hier zu berichten versuche. Denn natürlich hatte ich von diesen Geschichten, die gewissermaßen das biografische Unterfutter meines Lebens und meiner Gefühle bildeten, immer schon gewusst und zu erzählen versucht. Doch wenn der fiktionale Raum, der als Ort der Geschichte diente, erschaffen war, kam unweigerlich der Moment, da ich wirklich ICH sagen und den Namen meiner Familie hätte benutzen müssen. Und das war regelmäßig der Moment, wo die Fiktion durchbrochen wurde und in sich zusammenfiel. So entstanden über die Jahre immer wieder Erzählversuche, die Fragment bleiben mussten, weil sie ab einem bestimmten Punkt zur Autobiografie oder zum Sachtext zu werden drohten. Die meiste Zeit meines schreibend verbrachten Lebens war das Buch im wahrsten Sinne des Wortes deshalb unschreibbar für mich, ja, es war in seinen Splittern und Einzelteilen nicht mal gedanklich zu einer Einheit zu fügen, obwohl es in jedem Detail unbestreitbar immer schon zum Urgrund meines Lebens gehört hatte. Die Situation hätte zwingend zu einer veritablen Schreibhemmung führen müssen, wenn ich nicht glücklicherweise so viele andere Erzählstoffe gehabt hätte, die realisiert werden wollten und dabei von der Erzählform her so verschieden waren, dass ich, bevor ich endgültig feststeckte, immer wieder zu einem anderen Projekt, sei es Drehbuch, Theaterstück, phantastische Erzählung u.a. ausweichen konnte.
Das Unvermögen, meinen wichtigsten Stoff literarisch fiktional zu gestalten, aber blieb. Diesen Knoten zu lösen, gelang mir erst, als ich mich entschied, mich nicht immer wieder in die Sackgasse zwischen fiktiver Geschichte und dokumentarischem Sachtext treiben, sondern beides zu seinem Recht kommen zu lassen. Und so ist das Buch nun über weite Strecken ein nicht fiktionaler Text geworden, der versucht, dort, wo das möglich ist und die Fakten es nahelegen, eine quasi dokumentarische Darstellung zu erreichen. Und darin und dazwischen füge ich fiktive Erzählpartien ein, sogar Gedichte, die den Sachverhalt begleiten und gewissermaßen von einer anderen Ebene her zugänglich machen, die verdeutlichen sollen, auf welche Weise und in welchen Anläufen ich mir zuvor schon versucht habe, das Geschehen erzählerisch verfügbar zu machen. Keiner dieser fiktiven Texte ist jetzt für das Buch aktuell neu verfasst worden, sie sind alle über viele Jahre in meiner Auseinandersetzung mit diesem Stoff entstanden. Und wo sinnvoll, da zeige ich auch auf, aus welchen Bestandteilen des faktischen Hintergrunds die fiktiven Erzählungen aufgebaut sind, wie das pure Faktum, das Beil der Großmutter etwa, in den Erzählzusammenhang der Prosa gewandert ist.
So ist, ohne dass ich es vorausgeplant hätte, auch das dialektische Verhältnis zwischen den Dokumenten und den Fakten der erinnerten Berichte auf der einen und der daraus gewachsenen fiktiven Geschichte auf der anderen Seite offengelegt worden. Ein besonders deutliches Beispiel dafür ist im Buch die karge Erzählung meiner Mutter von dem Säugling, der im Ofen erstickte. So sehr meine Mutter von diesem Ereignis auch ihr Leben hindurch verfolgt worden ist, es einfach als das Faktum zu berichten, das sie mir mitgeteilt hatte, hätte es für einen möglichen Leser unverständlich werden lassen. Also habe ich dieser Episode aus dem mütterlichen Leben die Erzählung „Die Konfessionen des Herzens“ gegenübergestellt, eine erfundene Geschichte, die dem geschilderten Ereignis Hintergrund und Zusammenhang gibt, um es so verständlich zu machen. Man könnte sagen, ich baue um der Verständlichkeit willen einen fiktiven Erzählzusammenhang auf, lasse den Leser aber dann nicht mit der Fiktion zurück, sondern baue sie Stück für Stück wieder ab, sage, das gab es nicht und das auch nicht usw. … Nur der tote Säugling war real.
Dass aus diesem Vorgehen schon an sich ein Erkenntnisgewinn erwächst, glaube ich ganz sicher, denn man erblickt dadurch die Webfäden und Knoten an der Unterseite des erzählerischen Teppichs, der an der Oberseite gewöhnlich so dicht, lückenlos und in sich geschlossen daherzukommen pflegt. Zudem wird die Romanform aufgebrochen, wird an die biografische Wahrheit der Figuren angeschlossen, und das, was mir durchaus neu zu sein scheint, nicht irgendwie verdeckt sondern offen. Also eben nicht versteckt in einem Sack voller Lügen. Aber wichtiger noch war für mich, dass ich mir den Stoff nur auf diese Weise verfügbar machen konnte. Und ihn mir verfügbar machen, davon sprechen, das wollte ich unbedingt, so schwer es auch war. Denn ich habe niemals etwas von Wittgensteins Diktum gehalten, dass man zu dem, wovon man nicht sprechen könne, schweigen müsse. Ja, all das Schweigen, Verschweigen, das nicht sprechen können oder dürfen, darum geht es. Jeder, der nur einen Moment in sich selbst hinein horcht, wird zugeben, dass sie/er diese Situation kennt. Aber wozu wäre ein Schriftsteller gut, wenn er dieses Schweigen, ob nun privat, familiär oder gesellschaftlich verordnet, nicht durchbricht? Er wäre dann doch nur ein Kasperle der Unterhaltungsindustrie. Aber es zu durchbrechen ist mitunter unsagbar schwer. Mir gelang es erst durch die hybride Form der Darstellung aus dokumentarischem und fiktivem Erzählen.
Was damit aber noch längst nicht entschärft war, das war das große Tabu Auschwitz. Auschwitz ist nicht erzählbar. Und ich bin auch kein Historiker, der neue Fakten zu Auschwitz zu addieren gehabt hätte. Nur gibt es leider, leider Fakten, die auf, zumindest mich, verstörende Art in den Bereich der Familiengeschichte hineinragen. Trotzdem hatte ich nicht die Absicht, über Auschwitz zu schreiben, denn ich wusste nur zu gut, was mir blühen würde, täte ich es. Ich wollte Auschwitz auch persönlich nicht nahe kommen, körperlich nicht, hatte mich dagegen gewehrt, über Jahrzehnte. Und da ich mich seit Beginn meines Schreibens mit dem deutschen Faschismus auseinandergesetzt hatte, kenne ich die Reaktionen und, ja, Verurteilungen, die von solch einem Schreiben getriggert werden. Als 1981 mein erster Roman „Seelenlähmung“ erschien, der sich mit dem 2. Weltkrieg befasst, beschied mir Michael Krüger in einer Besprechung, dass ich über den Krieg nicht zu befinden habe, da ich dafür einfach zu jung sei. Zugleich schlug er das Buch für den Aspekte-Literaturpreis als bestes deutschsprachiges Erstlingswerk des Jahres vor. Solch ein ambivalentes Urteil löste das Thema aus. Bei „Kinder der Bosheit“, meinem zweiten Roman, war es nicht besser. Da rieten sogar die Vertreter des Verlages den Buchhändlern von der Bestellung des Buches ab. »Was, so viele Bücher wollen Sie ordern, von diesem schrecklichen Buch?« Auf der anderen Seite erhielt ich für diesen Roman den Preis der Deutschen Akademie in Rom, Villa Massimo. Meinen Roman „Calvinos Hotel“, der meine Deutschlandtrilogie abschließt, wollten Verlage lange Zeit nur unter der Bedingung veröffentlichen, dass ich den Handlungsstrang über den Bosnienkrieg strich. Beschränken Sie sich doch bitte auf die schöne Familien- und Liebesgeschichte in Italien, hieß es, sowas gab es noch nicht. Und so ging es weiter. Mit einem Höhepunkt dieser Art Beurteilung lebe ich, seit ich mein Theaterstück „Eistage“ über John Demjanjuk schrieb. Es wurde von insgesamt 180 deutschen Theatern ohne Begründung abgelehnt. Nur vom Berliner Ensemble unter Claus Peymann, deren Assistentin meine Frau über Jahre gewesen war, erhielt ich einen dummen Brief des Inhalts: Es sei sehr erstaunlich, wie intensiv ich mich in die Psyche eines Massenmörders hineinversetzen könne. Ob ich vielleicht selbst einer sei?
Kurz gesagt, ich bin nicht ahnungslos, was Deutschland und die Themen Krieg und Faschismus angeht. Ebenso wenig habe ich mir das aus irgendwelchen Gründen ausgesucht. Ich bin es vielmehr geflohen, wo immer ich konnte. Aber es hat mich eingeholt. Das Schreiben war ein schmerzhafter Prozess. Darum sind es am Ende auch nur ein paar Dinge geworden, die ich von mir, meinen Eltern und Auschwitz weiß. Ich meine es wirklich so zurückhaltend und defensiv, wie es der Titel sagt, denn ich habe nicht die Wahrheit über meine Eltern oder gar über Auschwitz. Vielleicht bin ich dem durch die Arbeit an diesem Buch etwas näher gekommen, als die notorischen Schweiger es können und wollen. Wenn ja, dann war es die beschwerliche Reise in den dunklen Wald wert.
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