Die Entstehung und Geschichte der Neuen Linken in Frankreich, d.h. jener Linken, die auf der Suche nach einem « dritten Weg » war, in den ersten zehn Jahren der V. Republik (1958-1968) geht die Historikerin Susanne Götze in Ihrer Dissertation nach. Sie füllt damit eine eklatante Forschungslücke der politischen Ideengeschichte, die sowohl in Frankreich als auch im deutschsprachigen Raum klafft. Selber erklärt sie: « Die Untersuchung geht dabei den Fragen nach, in welcher Tradition sich die unterschiedlichen Strömungen der Neuen Linken verstanden und welche Kritik sie an der traditionellen Linken übten, die vor allem durch die Parteien SFIO, PCF und ’Parti radical’ verkörpert wurden. » (S. 14). Aus der SFIO und der Parti radical ging 1969 die heutige PS hervor.
Im Fokus steht bei ihrer Untersuchung die 1960 gegründete PSU, die als ein Sammelbecken der Neuen Linken gilt (vgl. S. 30) bzw. als « Partei neuen Typs » (S. 209) tituliert wird, einzelne Zeitschriften der Neuen Linken wie z.B. Sartres / de Beauvoirs « Les Temps Modernes », Castoriadis’ « Socialisme ou Barbarie » oder der mit dem Intellektuellen Edgar Morin assoziierten Periodikum « Arguments » sowie einzelnen, für die Neue Linke zentralen Intellektuellen wie Jean-Paul Sartre, Cornelius Castoriadis oder Henri Lefebvre. Das Jahr 1968 wird von Götze in diesem Kontext als eine Zäsur der Neuen Linken rezipiert. Die PSU wandelte sich ihrer Auffassung nach im Zuge der Ereignisse von 1968 zu einer Partei der Neuen Sozialen Bewegungen (vgl. S. 277).
Ihre der Untersuchung zugrunde liegende These lautet: « Ziel der Arbeit ist es, die ideologischen Ausrichtungen, programmatischen Konzepte und politischen Strategien der Neuen Linken herauszuarbeiten sowie notwendige Abgrenzungen gegenüber linksradikalen und reformistischen Kräften vorzunehmen » (S. 15).
Eingebettet ist diese Untersuchung in eine Darstellung der Vorgeschichte, die für das Verständnis jener, politisch-sehr bewegten Jahre (u.a. der Algerienkrieg, Stalins Tod und Entstalinisierung der Kommunistischen Parteien, Debatten um Selbstorganisation) unumgänglich ist. Schließlich waren viele Aktivist*innen zuvor Mitglieder der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) oder standen ihr zumindest zeitweise nahe. Der Konflikt mit der PCF weist darüber hinaus aber auch Aspekte eines Generationskonflikts auf (vgl. S. 67). Sie nennt als konstitutives Element der Neuen Linken explizit die Enttäuschung über die traditionelle Linke (vgl. S. 36). Dieser Aspekt findet sich auch dezidiert im antistalinistischen Grundkonsens der Neuen Linken wieder, womit sie sich eindeutig von der PCF unter der Führung von Maurice Thorez unterschieden. Die Existenz von Vorläufern datiert Götze bis auf die 30er Jahre zurück (vgl. S. 110) und ganz konkret auf das in den 50er Jahren gegründete « Centre d’action des gauches indépendantes » (CAGI) (vgl. S. 81).
Die Neue Linke in Frankreich, die kein vergleichbares Pendant in Deutschland gefunden hat, obwohl es – wie die Autorin anmerkt z.T. parallel theoretisch ähnliche Ansätze gab – zeichnet sich u.a. durch einen Rückgriff auf nicht-marxistische Theoretiker – namentlich auf den „Vater des französischen Sozialismus“, Pierre-Joseph Proudhon, – aus. Es wurde dabei schon frühzeitig, d.h. vor « 1968 » vereinzelt der Versuch unternommen, die beiden « feindlichen Brüder Marxismus und Anarchismus » zu versöhnen (vgl. u.a. S. 33). Neben Proudhon war für den Diskurs auch das Erbe des Frühsozialisten Charles Fouriers von Bedeutung, der generell für die französische Linke ein wichtiger Inspirator war und dessen Rezeption sich u.a. bei Emile Zola oder Andre Breton fand – während die Friedrich Engel’sche Verdammung in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ seiner Theorien im deutschsprachigen Raum einem Todesurteil gleichkam.
Weiterhin gab es einen für die Neue Linke symptomatischen Diskurs über Selbstverwaltung, der in Frankreich nicht nur theoretisch blieb, sondern später auch zum Repertoire in politischen und ökonomischen Auseinandersetzung gehörte – wie sich z.B. bei der 1973 erfolgten Besetzung der Fabrik LIP im Jahre 1974 .
Die von Susanne Götze vorgelegte Studie ist ein fundierte Analyse der Entstehungsbedingungen und ideengeschichtlichen Entwicklung der Neuen Linken in der V. Republik Frankreichs. Sie bietet einen guten Einblick in die Geschichte der französischen Linken – und damit leistet sie auch einen Beitrag zum Verständnis der Ausgangsbedingungen der 68er Bewegung, die man vorrangig unter dem Begriff der Neuen Linken subsummiert.
Maurice Schuhmann
Susanne Götze: Die Neue französische Linke von 1958 – 1968. Engagement, Kritik, Utopie, Tectum Verlag Marburg 2015 (= Zugl. Univ.-Diss. Potsdam 2014), 480 S., Preis: 34,95 €, ISBN : 978-3-8288-3691-4.