Gemeinschaft und Revolution bei Gustav Landauer

Der deutsch-jüdische Anarchist Gustav Landauer (1870-1919) ist im europäischen Ausland im Diskurs bisher höchstens eine Fussnote. Er wird – trotz seiner Bedeutung u.a. für den sog. Kulturanarchismus, die Kibbuzim-Bewegung und die Entwicklung des deutschsprachigen Anarchismus – bislang kaum rezipiert. Auch in Frankreich ist es der Fall, obwohl der von Landauer gegründete Sozialistische Bund auch einen Ableger in Paris hatte und sein Bekannter Erich Mühsam von Landauers Kontakten bei seinem Frankreichtrip profitierte.

Seit ein paar Jahren gibt es wieder eine verstärkte Rezeption des Landauer‘schen Denkens nicht nur in Deutschland – u.a. Dank Anatole Lucet, der als Mitübersetzer von Landauers Aufruf zum Sozialismus und Mitorganisator einer Konferenz zu Landauer in Lyon hierzu massgeblich beitrug. Er hat u.a. eine umfangreiche Doktorarbeit über ihn verfasst. Jetzt ist auch sein 407seitiges Buch „Communauté et révolution chez Gustav Landauer“ über die Philosophie Landauers erschienen und macht damit diesen interessanten Denker und seine Philosophie einem breiteren Publikum bekannt.

Bei fremdsprachigen Publikationen wie diesem stellt sich dann natürlich als erstes die Frage – Was bringt es für den deutschsprachigen Diskurs? Hinkt es nicht hinter dem deutschsprachigen Diskurs hinterher, da erst einmal die Grundlagen für jenes Zielpublikum gelegt werden müssen? In Bezug auf den vorliegenden Band kann man die zweite Frage getrost mit „nein“ beantworten und sich ausgiebiger der ersten Frage zuwenden. Lucet ist ein sehr guter Kenner der Materie, der auch am deutschsprachigen Diskurs seit mehreren Jahren partizipiert und durch seine Dissertation über Landauer sehr gut vertraut ist, mit dem (internationalen) Forschungsstand. Sicherlich gibt es vereinzelt Passagen, bei denen deutlich wird, dass es sich an ein nicht-deutsches Publikum richtet, wenn vereinzelt Begriffe erklärt und eingeordnet werden, aber diese halte sich in überschaubaren Grenzen.

 

Lucets sehr lesenswerter Essay gliedert sich dabei grob in eine Einleitung und zwei, für Landauer zentrale Themenkomplexe: „Gemeinschaft“ und „Revolution“, wie sich auch schon aus dem Titel des Buches ergibt. Die gut vierzigseitige Einleitung kontextualisiert das Wirken sowie die Philosophie Landauers zeitgeschichtlich und erläutert ein paar generelle philosophische Ansätze von ihm. Damit schafft er eine solide Grundlage zum Verständnis des, an sich sehr heterodoxen Anarchisten Landauer, der in seinem Werk sowohl Elemente des Individualanarchismus eines Max Stirners als auch sozialanarchistische Ansätze von Peter Kropotkin und Leo Tolstoi zusammenbrachte. Er steht damit auch ein Stück weit ausserhalb der größeren Strömungen des klassischen Anarchismus.

Im ersten der zwei Teile widmet sich der Autor dem Begriff der Gemeinschaft („communité“) unter unterschiedlichen Aspekten. Das ist besonders spannend in Bezug auf das Landauersche Verständnis von Individualismus, was dabei zum Tragen kommt, bzw. das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, was damals bereits ein vieldiskutiertes Thema war. Es geht aber auch um Begriffe und Konzeptionalisierung von Worten wie „Volk“, die im damaligen linken und anarchistischen Diskurs eine Rolle spielten. Als Basis greift Lucet dabei sowohl auf die veröffentlichten Texte als auch auf Briefwechsel zurück und kontextualisiert jene Aspekte.

Der zweite Teil des Buches widmet sich dem zweiten großen Begriff im Denken Landauers – dem der „Revolution“ – gleichzeitig ist es der Titel einer der Hauptschriften Landauers. In jener 1907 erschienen Schrift arbeitete Landauer mit den Begriffen von „Utopie“ und „Topie“, um den Prozess der Revolution zu beschreiben. Damit leistete er auch einen wichtigen Beitrag zum Diskurs der späteren Utopieforschung. Lucet beschreibt diesen Begriff im Kontext von Landauers Geschichtsauffassung als Motor der Geschichte. Ein anderer Aspekt ist der auf die Praxis gerichtete Ansatz Landauers

Ein kurzes, aber sehr prägnantes Fazit rundet den Essay ab. Hierin fasst noch einmal die wichtigsten Aspekte zusammen. Er führt hiermit noch einmal die wichtigsten Stränge seiner Untersuchung zusammen.

Die Stärke des Essays ist vor allem, dass Lucet eine synthetische Lesart seines Werkes anbietet und auch aktuelle politische Reflexionen beinhaltet. Er kennt sich sehr gut mit dem Werk des deutsch-jüdische Anarchisten aus und kann basierend darauf, eine interessante Lesart präsentieren. Dabei ist der Text sowohl für relative Laien im Sinne eines Einstiegs als auch für gute Kenner*innen zur vertiefenden Reflexion der Materie gut zu lesen.

Maurice Schuhmann

Amatole Lucet: Communauté et révolution chez Gustav Landauer, Klincksieck Paris 2023, 407 S., ISBN: 978-2-242-04732-3, Preis: 27 €.