Es gilt eine Uraufführung zu vermelden: Die ersten Silberfischchen als literarische Protagonisten! Wer – oder besser was – wäre Paul Ostenbrooke ohne seine Untermieter in der Dachgeschosswohung? Sie sind stumm und führen doch Zwiesprache mit ihm, das ist das Geheimnis der Resonanz. Zwei wahrhaft große Projekte treiben Ostenbrooke im Leben um: die Kartierung des Mondes und der Suizid. Das hört sich verrückt an und ist doch große Literatur, so wie der Rasende Roland, der einst seinen Verstand auf dem Mond verlor.
Beide Projekte sind in oder aus der Wohnung heraus zu schaffen. Die Mondkarte entsteht auf dem Fußboden aus einem Packen Altpapier. Und der Suizid muss als Sprung aus dem Dachfenster gestaltet werden. Auf gar keinen Fall anders. Beides kann aber nur in Kooperation mit den silbrigen Lieblingen Erfolg versprechen. Was soll man von einem solchen Menschen halten? Ich meine, viel. Wir alle sind schließlich auf der Suche nach einer passenden Haltung für unsere krisengeschüttelte Welt.
Es gibt eine Fülle an Angeboten in diesem Roman, die Geschichte zu interpretieren. Der Mensch, jeder Mensch, ist ein Rätsel. Man kann es versuchen. Bei Olsson heißt es: „Ich wusste nicht, wo ich war, und wollte doch nur nach Hause.“ So kann man jeden Tag des Helden lesen, auch seinen Todeswunsch. Die Sprache berauscht, auch in ihren Wendungen und Wiederholungen. Anfangs möchte der Leser wissen, wo er in der Geschichte steht und wo er hinsieht. Dann lässt man sich treiben. Manche Beobachtungen rühren zu Tränen, dann aber verkneift man sie sich. Warum sollte man selber gefühlsseliger sein als der Held? Soll er doch machen, denkt der Leser bockig. Und wünscht sich etwas anderes.
Ostenbrooke ist auf dem Grunde seines Herzens ein Romantiker. Jeder Suizid ist ein zutiefst romantisches Unternehmen. Denn von eigener Hand stirbt man nur bei unerfüllten und unerfüllbaren Sehnsüchten. Schauen wir auf Literaten wie Kleist. Oder literarische Figuren wie den Werther. Wohlgemerkt, nicht die Sehnsucht macht den Selbstmord, sondern ihre (negative) Qualität. Dass sie unerfüllbar ist, weiß man aber nicht sogleich. Die Einsicht stellt sich erst nach langem vergeblichem Warten heraus.
Unser Held wartet also von Montag zu Montag zu … Es ist ein fruchtbar fruchtloses Warten, so wie einst zwei Menschen an einer Haltestelle auf Godot gewartet haben. Erinnerungen, Erkenntnisse, Reflektionen purzeln durch den Warteraum, insofern ist er fruchtbar. Doch sie bessern das Leben, den Alltag-Montag und die Erwartung auf die kommenden Montage nicht. Erlösung ist nicht greifbar, so wie andernorts niemand dem abwesenden Godot auf die Schulter klopfen konnte. Hier zeigt sich am Ende die unfruchtbare Seite des Wartens. Es ist eine Art der Selbstfesselung.
Können wir es – quasi die eigene Schulter zuckend, wenn keine andere greifbar ist – dabei bewenden lassen? Nein, wir müssen lesen, um uns mit Einsichten zu bereichern. Denn der Autor hat eine überzeugende Antwort auf die Frage aller Schreibwerkstätten gefunden. Wie schreibe ich über Langeweile, ohne langweilig zu schreiben? Wie beschreibe ich die Monotonie der (Mond-)Tage, ohne eine Klappermühle zu bedienen? Wie fessele ich den Leser mit einem Anti-Helden.
„Achtzehn Minuten Angst vor dem gemeinsamen Frühstück.“ Ja, der Held ist so einer. Wacht des Morgens im fremden Bett auf und bemitleidet sich. Und kommt dabei zu funkelnden Einsichten. „Andere verkaufen das Nichts als Erleuchtung, bei mir ist es eine Baustelle.“
„Montags warten auf Godot“ oder die „Weisheit der Silberfischchen“ steht daher für die Frage nach dem Sinn des Lebens. Godot, der eine, ist nicht da, die silbrigen Andern sind anwesend, doch sie reden nicht. Also müssen die jeweiligen Helden sich ihre Fragen selber beantworten. Oder sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Das ist Münchhausen und der knallharte Existentialismus. Kann das gutgehen? Wenn Estragon das enervierende Warten abbrechen will, so will Ostenbrooke es gleich mit dem ganzen Leben tun. Zwischenzeitlich stolpert er als menschliche Abrissbirne durch alle familiären, sexuellen und Arbeitsbeziehungen.
„Nichts zu machen!“, heißt es mehrfach bei Beckett. Die Existenz ist per se erschüttert. Ja, und nun? Sven j. Olsson geht einen Schritt weiter. Seit längerem ist er in seinem Schaffen geradezu besessen von der Deutung des Suizids. In diese Richtung löst er das tragikomische Drama des Wartens auf. Dann heißt Romantik pur die Ablehnung jeder Welt-Verantwortung und zugleich das Opfer, das alle Schuld und Verantwortung auf sich nimmt. Und sie durch seinen Freitod aus der Welt schafft. Tatsächlich? Zumindest aus seiner eigenen. Es bleiben Fragen, die ohne Antwort sein wollen. Fragen, die einfach gestellt werden, weil es schwerfällt, angesichts des irdischen Jammertals den Mund zu halten.
Reimer Eilers