Es gibt reflexhaften Antiimperialismus, es gibt nostalgische, verklärende Sichten auf die Welt, die zu nichts anderem führen, als dazu, dass uns – und ich meine dieses „uns“ in einem weiten, umfassenden Sinne – nicht abgenommen, nicht geglaubt wird, was wir doch wollen sollen: Eine Welt, die von jener in der wir leben im Guten zu unterscheiden ist.
Ja, es ist so, dass nicht nur die privaten Medien, sondern auch die öffentlich-rechtlichen, indoktrinative, durch das Weglassen von Informationen verfälschte, durch die Auswahl der Informationen demagogische Informationen verbreiten, die der Desinformationen näher sind als der Wahrheit. Das ist so, weil es anders gar nicht sein kann, wenn Medien in erster Linie ein profitables Unternehmen sein sollen.
Wir aber, wir haben deshalb die doppelte Pflicht, wahrhaftig zu sein und auf der humanistischen, moralisch-ethischen Grundlage dessen zu stehen, was uns das Fundament für eine Welt ist, die sich von der unterscheidet, die uns nun umgibt. Und die bestehende Welt ist eine, die jährlich, folgt man den Berichten von UNO-Institutionen wie der UNESCO, 50.000.000 Tote durch Hunger, Kriege, Verteilungsprobleme, mangelnde Gesundheitsversorgung, Ausbeutung und anderen vermeidbaren Problemen zu verantworten hat. Wir wissen, dass es, nicht allein, aber an vorderster Stelle das Profitstreben ist, welches diese große Not hervorbringt.
Es gibt, materialistisch betrachtet, keinen anderen Grund für unsere Ablehnung der gegenwärtigen Verfasstheit, als den Humanismus. Dabei ist es egal, ob wir Marxisten-Leninisten, Anarchisten, Radikaldemokraten oder Syndikalisten sind: Wir wollen eine andere Welt, weil diese für so viele Menschen unerträglich ist, dass man sie nicht hinnehmen kann, weil die Verteilung von Reichtum und damit von Ressourcen ungerecht ist, weil Arbeit Ausbeutung bedeutet, ob man will oder nicht. Doch wir sollen nicht nur eine andere Situation, eine bessere, für die wollen, die unter der Last des Kapitalismus leiden als Produzenten, sondern auch für die, die sich den Mehrwert aneignen. Die Analyse der politisch-ökonomischen Verflechtungen baut auf dieser Ablehnung auf. Weshalb sonst sollte es sie, will man nicht Teil der herrschenden Struktur sein, geben?
Und doch leugnen einige von uns die Verbrechen, die in unserem Namen begangen worden sind. Nein, das ist keine Kritik, die darauf abzielt, sich der historischen Verantwortung zu entziehen, in dem man sich anders verortet. Im Gegenteil. Wir müssen zu den Verbrechen der Vergangenheit stehen, so stehen, dass man uns glauben kann: Nie wieder darf geschehen, was geschehen ist. Nie wieder darf es Alleinherrschaft, Nomenklatur, Gulags, Verfolgungen Andersdenkender, Zensur und Einschüchterung geben. Nie wieder politische Morde.
Wenn wir den Sozialismus wollen, dann müssen wir glaubhaft versichern können, dass wir auch für Demokratie stehen und dass diese Demokratie für uns auch Minderheitenschutz bedeutet, gleiche Rechte für alle Geschlechter, dass wir gegen Rassismus und Antisemitismus stehen und für das Recht der freien Entfaltung des Individuums (die ihre Grenze in den Rechten der anderen Individuen findet). Einen Sozialismus ohne Demokratie kann es nicht geben. Und auch eine Übergangsgesellschaft ist gouvernantenhafte Machtausübung anstelle der Bevölkerung nicht möglich. Gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln ist nur dann schlüssig möglich, wenn die Gesellschaft nicht nur eine eingeschränkte Macht hat, sondern die Herrschaft. Das aber ist die Demokratie. Zu ihr gehört die Gegenrede, die Freiheit des Wortes und die Freiheit der Kunst. Eine Gesellschaft ohne den freien Wettstreit der Meinungen erstirbt, um es in Anlehnung an Rosa Luxemburg zu sagen. Wir kennen die Fehler der Vergangenheit, wir wären in der Lage, sie mit kühlem Verstand und nicht mit heißem Herz in die Zeiten einzuordnen, ihre Herkunft zu benennen und so zu vermeiden. Viele von uns aber nutzen die Analyse der historischen gesellschaftlichen Strukturen zur Entschuldung der Verbrecher von ihren Verbrechen. Das ist ein Fehler. Man muss ihm entgegentreten.

All das schließt aus, dass wir uns auf die Seite derer stellen, die aus machtpolitischen Kalkül, die als Diktatoren oder despotischen Präsidenten jene Freiheit beugen, einschränken, bekämpfen, verhindern, die wir doch wollen sollen müssten. Auf der Linie jener nicht zu stehen, bedeutet nicht, sich ihren Gegenparts anzudienen, die oft auch unsere Feinde sind. Der Feind unserer Feinde ist nicht unser Freund, weil er der Feind unserer Feinde ist. Man ist nicht für die Zerschlagung der Staatlichkeit Syriens, nicht für die fundamentalistischen Gotteskrieger, nicht für ihre europäischen und us-amerikanischen Helfer, wenn man gegen eine Diktatur ist. Man kann Forderungen erheben an beide Seiten und man kann kämpfen gegen Krieg und Unterdrückung, auch dann, wenn alle Beteiligten in Gegnerschaft zu den eigenen Weltsichten stehen.
Wer ernsthaft glaubt, der russische Präsident Putin, zum Beispiel, wäre etwas anderes, als der Führer eines aufstrebenden imperialistischen Zentrums, irrt sich aus geographischer Nostalgie. Wer meint, Pussy Riot gehöre für Jahre hinter Gitter, ist kein Narr, sondern jemand, der mit Idealen Schindluder treibt. Wir, die wir jede Verfolgung unserer Genossinnen und Genossen mit vollem Recht anprangern, können nicht ernsthaft die Verfolgung jener gutheißen, die sich von uns zwar unterscheiden in ihrer Sicht der Dinge – oder auch nicht -, die aber weiter nichts getan haben, als eine lässliche Übertretung (in diesem Falle), die nichts weiter getan haben, als ihr Recht auf freie Rede, auf die Freiheit ihrer Kunst oder die Freiheit des Wortes in Anspruch zu nehmen (in anderen Fällen). Es gibt keine logische, politisch haltbare und moralisch oder ethisch saubere Argumentation für die Verfolgung der einen, wenn man gegen die Verfolgung der eigenen ist.
Will man glaubwürdig sein, so muss man sich auflehnen gegen Unterdrückung und Zensur, gegen überzogene Bestrafungen und Haftbindungen, die menschenunwürdig sind, muss sich auflehnen, egal wo die Dinge so sind, wie sie nicht sein dürfen. Das gilt, da es keine Ausnahme geben kann, wenn wir unterscheidbar schon in der Wahrhaftigkeit unserer Argumente von jenen sein wollen, die nun fast alle Länder beherrschen, auch für jene Staaten, denen wir aus gutem Grund solidarisch gegenüberstehen, weil wir daran glauben, dass sie in sich ein Zukunftsmodel tragen, welches unserem näher ist, als die globale Wirklichkeit.