Der Junge, der im Haus meiner Eltern
lebte, hat graue Haare bekommen.
Damals, im zweiten Stock, wo die
Dachschräge das Zimmer eng machte
trug er Bücher zusammen, stellte
sie auf ein Bord und hasste die Tage
die ihn von der Zukunft trennten.
Auf Fotos schaut er aus dem Schwarzweiß
jener Zeit, die nicht weichen wollte
vor seinem ungeduldigen Blick.
Die Musik, die er auf einem kleinen
wachstuchbespannten Plattenspieler entdeckte
war seine einzige Verteidigungsmöglichkeit.
Tschaikowsky, Beethoven und Grieg
schützten ihn vor dem unerträglichen
Beharren des Augenblicks, aber nur
Mozarts Tempi waren schnell genug
für seine hungrigen Ohren.
Einmal, zwischen Juli und August, als
der Sommer nach geschmolzenem Asphalt roch
versuchte er sich den Tod vorzustellen.
Das war in dem Jahr, als der Sohn der Nachbarin
an der Lunge starb. Nacht für Nacht
hörte er im Nebenhaus, auf der anderen Seite
der Wand, den endlosen Tumult des Sterbens.
Damals hätte er es begreifen können
aber ihn überraschte nur die Stille
an einem Morgen danach. Er brauchte
Jahrzehnte, der Junge aus dem Haus
meiner Eltern, um zu verstehen, dass
er sich geirrt hatte, dass die Zeit nicht steht
und die Pläne schwinden wie die
zu engen Zimmer der Kindheit.
Wenn er heute beim Frisör sitzt
und dem Schnippen der Schere an
seinem Ohr lauscht, die grauen Haare
im Schoß, wenn er in den Spiegel schaut
in den er so oft schon geblickt hat
muss er lächeln. Er weiß jetzt, dass
gar nichts bleibt. Nicht die Häuser,
nicht die Zimmer, die Menschen nicht
und nicht das eigne Bild.
Und gewiss ist nur dies
… wird kommen über Nacht.