Saint Genet im Gespräch

Jean Genet (1910-1986) – von Jean-Paul Sartre einst zum „Saint Genet“ (1952) verklärt – ist sicherlich eines der schlimmsten enfants terribles der französischen Nachkriegszeit und einer der interessantesten französischen Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Er bekannte sich offen zu seiner Homosexualität, die auch in allen seinen Texten durchscheint und auch immer wieder von seinen Interviewpartner*innen angesprochen wurde. So würdigte Hubert Fichte in seinem Interview mit ihm für die deutschsprachige Wochenzeitung Die Zeit (1975) die Bedeutung seines Werkes mit den Worten: „Etwas übertrieben würde ich sagen, dass es heute keinen Homosexuellen auf der Welt gibt, der nicht in seinem Dasein direkt oder indirekt von Ihrem [Jean Genets] Werk beeinflußt wurde“ (231). Dieses Interview ist sicherlich neben dem, auf Initiative von Simone de Beauvoir mit dem Playboy (1964) vermittelten Gespräch eines der aussagekräftigsten Interviews, die mit Jean Genet geführt wurden. Einzelne Fragen von Madeleine Gobeil wirken zwar etwas unbeholfen – so wenn sie ihn fragt, ob er sich jemals für Frauen interessiert habe (vgl.: 29), aber sie spricht auch einzelne sehr wesentliche Aspekte an.

Von International Progress Organization – http://i-p-o.org/genet.htm, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8499473

Er ergriff Partei für die Rote Armee Fraktion – in Form eines Vorworts zu „Texte der Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion und letzte Briefe von Ulrike Meinhof“ –, solidarisierte sich mit afrikanischen Arbeitsmigrannt*innen und unterstützte auf Nachfrage vehement mit Artikeln und Redebeiträgen die US-amerikanische Black Panthers Party – vor allem in Bezug auf die Soledad Brothers mit besonderem Augenmerk auf dem Schicksal von Georges Jackson – sowie die Fedajin, palästinensischen Kämpfer, die er nicht zuletzt wegen ihrer körperlichen Anmut glorifizierte. „Die Fedajin besaßen eine Schönheit, die frisch und naiv war und die Intelligenz ansprach. Sie haben den leicht affektierten alten Adel abgelegt und ihre Gesten sind einfach, effektiv und zum Einsatz bereit“ (288). Seine Sicht zum Nahostkonflikt ist streckenweise – aus heutiger Sicht – befremdlich und sehr stark von einem schwarz-weiss-Denken geprägt. Es reiht sich aber sehr gut in den linken Diskurs in Frankreich ein. Die z.T. kaum reflektierte Solidarität mit der PLO zeigt sich z.B. in einem Gedenkstein für die Opfer der ersten Intifada auf dem Hof der Universität Paris 8 – Saint Denis, die einst von Philosophen wie Michel Foucault in Folge der 68er Revolte gegründet wurde.

Im mittlerweile neunten Band der gesammelten Werke Genets finden sich (politische) Essays, die den „Aktivisten“ und „engagierten Intellektuellen“ (sofern man von einem Intellektuellen im Falle von Genet sprechen kann) zeigen, sowie Interviews mit Jean Genet, die ursprünglich in unterschiedlichen Medien erschienen. Die Essays sind weitestgehend journalistische Beiträge, die Genet für die französischsprachige Presse (Le Monde, Le Nouvel Observateur, Pas à pas, Le monde diplomatique) verfasste. Gerade die Interviews bieten einen interessanten Zugang zu Genet, seinem Denken und Werk. Sie ermöglichen ein besseres Verständnis seines durch und durch provokanten Werks, welches durch die Erfahrung des Aussenseitertums und der hassähnlichen Ablehnung Frankreichs geprägt ist. Ein Teil der hier vorgelegten Texte wurden erstmalig ins Deutsche übersetzt – z.B. das BBC-Interview von 1985 oder die „May Day Speech“ bei einer Black Panthers Veranstaltung im Jahr 1970. Die Ausgabe folgt der französischen, von Albert Dichy editierten Ausgabe. Dichy, zu dessen Forschungsschwerpukten Jean Genet gehört, leitet das Institut Mémoires de l’édition contemporaine in Paris. Er hat neben editorischen Anmerkungen auch eine Chronologie zu Leben und Werk erstellt, die sich im Anhang zu den Texten Genets findet. Damit setzt der Merlin Verlag, der noch in den 1960er Jahre ein Verfahren wegen der Herausgabe von Genets Werken hatte, die Ende der 90er Jahre begonnene Herausgabe der Werke Jean Genets mit einem weiteren Highlight fort. Sehr empfehlenswert.

Dr. Maurice Schuhmann

Jean Genet: Werke in Einzelbänden, Band: IX: Essays, Interviews, Merlin Verlag Gifkendorf 2020, 572 S., ISBN: 978-3875363357, Preis: 32 Euro.