Polyamaourös leben und lieben

In der öffentlichen Wahrnehmung neigen häufig vegane sowie polyamoureuse Menschen dazu, ihren Lebensstil anderen als die Wahrheit zu predigen und zu missionieren. Bei Inna Barinberg, Mitarbeiterin des alternativen Sexshops „Other Nature“ in Berlin und Beziehungscoach, ist dies glücklicherweise anders. Sie distanziert sich von diesem Verhalten. „Dabei geht es mir gar nicht darum, zu provoziere oder andere Beziehungsformen grundsätzlich infrage zu stellen“ (11). Ihr geht es vielmehr darum, eigene Erfahrungen aufzuzeigen und damit Anregungen für den Umgang damit bzw. Denkanstösse aus einer queeren Perspektive zu geben. Dabei umreisst sie im Vorwort Polyamorie wie folgt: „Polamorie bedeutet für mich, mehrere Menschen gleichzeitig zu begehren, zu lieben und mich ihnen zu committe. Mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben ist wuderschön, bereichernd, anstrengend, energiezehrend und gleichzeitig wahnsinnig unaugeregt.“ (11). So geht es in über 30 kurzen Kapiteln u.a. um den Umgang mit Gefühlen insbesondere der Eifersucht, die Gewichtung und Hierarchisierung von Beziehungen sowie die Kommunikation zwischen und mit den einzelnen Beteiligten. Vieles davon – gerade, was die Kommunikation betrifft – sollte auch für monogame Beziehungen gelten. Einiges hiervon ist das kleine 1×1 von Beziehungen wie z.B. die Betonung der Wichtigkeit von Kommunikation an sich, anderes wie z.B. die Frage nach der Definition von „Sex“, Aspekte rund um „Grenzen“ und „Verantwortung“ ist tiefergehend. Sie räumt dabei u.a. mit manchen Klischees auf und grenzt den Begriff der Polyamorie von anderen Konzepten wie dem der offene Beziehung deutlich ab. Dabei orientiert sie sich an konkreten, häufig aufkommenden Fragen. Bei den Beiträgen handeltes sich um alte Blogbeiträge bzw. einen Zeitschriftenbeitrag, der im Missy Mag erschienen ist.

Zum Ende ihres Ratgebers wird es etwas problematisch. Sie spricht von ihrem Kinderwunsch und ihren Bedürfnissen als Erziehungsberechtigte – ohne dabei auch nur einmal die potentiellen Bedürfnisse oder Wünsche des zukünftigen Kindes zu thematisieren oder auch nur anzusprechen. Nach den vorherigen Reflexionen verwundert dies etwas. Weiterhin wirken die letzten Kapitel ihres Bandes, in denen sie sich mit ihren eigenen Depressionen auseinandersetzt, etwas deplatziert. Sicherlich hat dieses Krankheitsbild auch Auswirkungen auf polyamoureuse Beziehungen, aber im Gegensatz zu dem vorherigen Part ist daraus weniger für andere zu ziehen und stilistisch wirkt es auch wie ein gewisser Bruch im Agumentationstrang. Dennoch sticht jene Publikation aus der Masse von Ratgeberliteratur zum Thema freie Liebe, offene Beziehung und Polyamourie heraus. Inna Barinberg hat einiges jenseits der üblichen Phrasen zu bieten und liefert diskussionswürdige Denkanstösse. Vor der aktuellen Entwicklung der Corona-Pandemie hätte ich mir aber auch ein Statement zu polyamoureösen Leben in Zeiten der Pandemie gewünscht, aber das Weglassen dessen macht das Buch natürlich „zeitloser“.

Maurice Schuhmann

Inna Barinberg: Mehr ist mehr. Meine Erfahrungen mit Polyamorie, Edition Assemblage Münster 2020, ISBN: 978-3960420897; 144 S., Preis: 14 Euro.

Zweisprachiger Blog von Inna Barinberg: http://polyplom.de/