Zwei Charaktere, beide gezeichnet vom Stigma des
Ungeborenen, des nicht ins Leben Getretenen, stürzen kopfüber in
den Sog einer selbstzerstörerischen Bindung und kommen bis zuletzt
nicht voneinander los; jede Hoffnung auf ein Ende dieser Verstrickung
wird in und von der Geschichte immer und immer wieder gnadenlos
zunichte gemacht. Von der ersten Zeile an findet sich der Leser im
Sog dieser Obsession – ob einer Sprache, deren Dichte eine Schwere
evoziert, der man, so überhaupt, schwer nur entrinnen kann. Ohne je
überfrachtet zu sein, ist Wodins Sprache eine bis zum Bersten
übervolle. Hinter der teils lakonischen, teils reflektiven Didaktik
lauert das nicht (Be-)Nennbare, das sich in „Nachtgeschwister"
erst zwischen den Protagonisten Bahn bricht – um sich dann über sie
und den Leser gleichermaßen herzumachen. Und dies in einer
Intensität, die jede Distanz unmittelbar gen Intimität
verschlingt. Der Sog eines Elementes, das an der ureigenen Masse zu
vergehen droht.

Selten hat es dafür solche Sprache
gegeben. Fast mag man ihr misstrauen, sucht den doppelten Boden,
nimmt kritisch Fährte auf. Deutsch eignet sich kaum für die
Schilderung seelischer Abgründe verschlingenden Ausmaßes, so
alltäglich sie auch sein mögen. Tatsächlich hat die Autorin diesen
steilen Grat in einer Form begangen, die man – so wird einem
schlagartig bewusst – gewöhnlich auf Kroatisch (oder in einer
anderen slawischen Sprache) gelesen hätte. Russisch hätte das
Unnennbare benannt, Kroatisch hätte der Quantensingularität
Seelennamen gekannt, den „Wahrnamen" des uralten Drachen. Hätte
die, auf kleinstem Raum geballte, Uferlosigkeit ans Licht gebracht,
„dem (Un)Ding" einen Begriff gegeben. Das Deutsche aber lässt
uns mit Namenlosigkeit über Namenlosigkeit zurück und setzt so den
Inhalt auch stilistisch in Szene. Als ein Ringen um Sprache, nicht
das Ringen mit ihr. Dieser Kampf generiert Antworten, denen wir lange
nachhorchen. Ohne ihrer begrifflich habhaft werden zu können. Der
Ereignishorizont dieser höchst authentischen Sprache wirft sie noch
vor den Fragen aus. Und legt offen, dass diese Fragen längst im
Leser vorhanden, ja: zentral sind. Wodin gibt Antworten, die wir zwar
verstehen, aber niemandem sonst mitteilen können. Vielleicht da sie
einer Welt angehören, die üblicherweise nicht erlesbar ist. Zurück
bleibt, unbenennbar wie ein intensiver Duft, die Empfindung, dass
auch wir – nicht nur die Protagonistin – etwas Großes gelesen
haben.

Natascha Wodin: „Nachtgeschwister"

Roman, Verlag Antje Kunstmann

ISBN 978-3-88897-560-8

http://www.kunstmann.de/