Kurt Kreiler argumentiert überzeugend für die Autorschaft Edward de Veres, des 17. Earl of Oxford, an den Werken William Shakespeares.
Es ist ein Kreuz mit der menschlichen Unsterblichkeit. Von unseren großen Kulturheroen ist der Mythos weit größer als unser Wissen. Wer war Homer? Gewiss, wir haben die Ilias und die Odyssee. Aber hat ein Homer überhaupt gelebt? Seit der Antike schwelt der Zweifel, denn vieles spricht für eine Autorschaft mehrerer Verfasser. Um die historische Existenz Homers steht es nicht besser, als um die Jesu Christi, gleichgültig, was das Neue Testament erzählen mag. Aber hier soll nicht an den Fundamenten der christlichen Kirche gerüttelt werden, das kann man getrost den sexuellen Präferenzen ihrer Vertreter überlassen.
Es fällt allerdings auf, dass die Grabenkämpfe um die Heiligen der menschlichen Kulturgeschichte desto uneinsichtiger geführt werden, je institutionalisierter die so genannten Experten das unsterbliche Erbe verwalten.
William Shakspere (1564-1616), Sohn eines Handschuhmachers aus Stratford-upon-Avon, der kaum mehr als die Elementarschule besucht hat und doch laut Lehrmeinung der weltgewandte Autor der unter dem Verfassernamen Shakespeare bekannten Dramen, Tragödien, Lustspiele und Sonette sein soll, die ihren Autor zum Homer der Neuzeit gemacht haben, ist dafür das wohl prominenteste Beispiel.
Dass an der denkbar dünn belegten Identität Shakspere/Shakespeares – schließlich hat von dem möglicherweise größten Dichter aller Zeiten kein einziges Manuskript die Zeit überdauert, nicht ein Brief von eigener Hand ist auf uns gekommen – längst schon massive Zweifel laut wurden, ist kein Geheimnis. Seit mittlerweile über 150 Jahren sind immer neue Kandidaten für die Autorschaft an Shakespeares Werken ins Spiel gebracht worden. Darunter immerhin so illustre Gestalten wie der Philosoph Francis Bacon. Und auch die These, nur der sprach- und welterfahrene Edward de Vere, der auf dem Kontinent gereist war und die Schauplätze vieler Shakespearescher Stücke aus eigener Anschauung kannte – man denke nur an „Der Kaufmann von Venedig“ -, bringe die Voraussetzungen mit, die es brauchte, um dieses unvergleichliche Werk zu verfassen, ist nicht erst vom Kölner Literaturwissenschaftler Kurt Kreiler aufgestellt worden. Sie stammt vielmehr aus der Feder von J. Thomas Looney, dessen Buch „Shakespeare Identified in Edward de Vere, the 17th Earl of Oxford“ bereits im Jahre 1920 erschien. Freilich machte es Looney der etablierten Shakespeare-Gemeinde zu leicht, da er den unhaltbaren Gedanken vertrat, dass Oxfords gesamte Verwandtschaft vollständig in die Personnage seiner Stücke eingegangen sei. Erstmals Kurt Kreiler ist es nun gelungen, das Bild Oxfords so unvoreingenommen und vollständig zu zeichnen, wie man es von einem seriösen Autor erwarten darf, und er hat dabei beachtenswerte Belege zusammengetragen. Er kann deshalb auch mit großem Selbstbewusstsein sagen: „Das Bild, zu dem ich gekommen bin, besitzt keine Widersprüche. Das heißt, ich bin nicht im geringsten Zweifel über diese Identität.“
Wer Kreilers Buch liest, dessen Argumentation sich stichhaltig entwickelt und den Leser über weite Strecken fast wie ein Krimi in Spannung hält, kann dem nicht anders als beipflichten. Allerdings steht ebenfalls völlig außer Zweifel, dass die Stratford-Fraktion, wie seit 150 Jahren, all dies ebenso unverändert ungerührt an sich abperlen lassen wird, dass es schon an habituell gewordene Ignoranz grenzt. „You may have theories, but we have the grave“, scheint das Motto zu sein, das die Shakespeare-Verwalter in Stratford am Denken hindert und die Fiktion von dem einfachen Mann aus bescheidenen Verhältnissen, der zum Verfasser von Weltliteratur wurde, die noch nach 400 Jahren rund um den Globus das Theater inspiriert, aufrecht erhält.
Völlig konsequent in diesem Sinne weist Stanley Wells, Experte in Stratford, dann auch die Beschäftigung mit Kreilers Forschungsergebnissen in einem TV-Interview zurück. „Es interessiert mich eigentlich nicht“, sagt er unumwunden. „In den letzten 50 Jahren habe ich so viel Unsinn gelesen, so viele Versuche, dieses oder jenes zu beweisen. Ich habe einfach die Geduld nicht mehr, mich mit weiteren, neuen Versuchen zu beschäftigen.“
Das ist so verständlich wie bedauerlich und könnte im Falle des Kreilerschen Versuchs ein großer Irrtum sein. Auch für diejenigen, die nicht das harsche Urteil Henry James’ teilen, der 1903 befand: „Der göttliche William, will mir scheinen, ist der größte und erfolgreichste Betrug, der je an der geduldigen Menschheit begangen wurde.“, macht die unwillige Antwort von Stanley Wells deutlich, dass ihm die Identität Shakespeares überhaupt keine Frage zu sein scheint, was eine andere Reaktion dann auch freilich gar nicht erwarten lässt.
Um es vorweg zu nehmen, einen wirklich eindeutigen Beweis für die Identität des 17th Earl of Oxford mit dem Autor von Hamlet, King Lear und Macbeth und Co. hat auch Kurt Kreiler nicht anzubieten. Aber worin sollte ein solcher Beweis beim Stand der Forschung bzw. der Quellenlage auch bestehen? Was Kreiler vorlegen kann, sind deshalb letztlich alles Schlussfolgerungen aus und Interpretationen von Dokumenten, die sich in ihrer Fülle allerdings zu Evidenzen verdichten. Diese Evidenz ist so erdrückend, dass man über das, was der Autor da ausgegraben hat, nur dann nicht ins Nachdenken gerät, wenn man es nicht will.
Sie reichen vom Nachweis und Neubewertung der bisher zum Teil unbekannten literarischen Produktion des Earl, die dieser anonym bzw. pseudonym erscheinen ließ, über neu aufgefundene Briefwechsel, – in denen Oxford als „Master William“ tituliert wird, als „Taufpate der Schriftsteller“, ja als „erster Orpheus“ und „Musterungsmeister der Schauspielgruppen“ -, bis hin zur genauen Nachzeichnung realer Ereignisse im Leben des Edward de Vere, die später in Shakespeares Werk, etwa im Hamlet, literarisch aufgenommen werden. Wobei es sich erübrigt, darauf hinzuweisen, dass es im Leben des Shakspere aus Stratford dazu keine Entsprechung gibt.
Dies alles zu übersehen, gelingt nur dann, wenn man sich entschlossen hat, wider jede mögliche Einsicht an der Legende der Autorschaft des Mannes aus den bescheidenen Stratforder Verhältnissen festzuhalten. Und dafür gibt es zwingende Gründe, freilich nicht literaturwissenschaftlicher Art. Die Gründe dieser Uneinsichtigkeit, um es gelinde auszudrücken, sind ganz und gar ökonomisch motiviert, denn an dem Sohn des Handschuhmachers aus Stratford hängt schon lange eine ganze Industrie. Das „we have the grave“ führt zu jährlich über 5 Millionen Besuchern, ohne die das kleine Städtchen nordwestlich von Oxford mit seinen gerade mal knapp über 20.000 Einwohnern schlicht seiner Existenzgrundlage verlustig ginge. Und seine akademischen Verwalter gleich mit dazu.
Lebenslange akademische Karrieren stürzten ein wie Kartenhäuser, wenn Shakspere mit Edward de Vere den Platz tauschen müsste. Kann das jemand wie der Shakespeare-Experte Stanley Wells allen Ernstes zulassen? Lieber reagiert er auf einen Literaturwissenschaftler wie Kurt Kreiler, als handele es sich dabei um einen esoterischen Spinner, der die Existenz von Atlantis zu beweisen trachtet.
Aber Kreiler geht es um Oxford. Denn er ist überzeugt, dass Edward de Vere der Baum ist, an dem die goldenen Äpfel der Shakespeareschen Stücke gereift sind. Und er ist auch zuversichtlich, was einen anstehenden Paradigmenwechsel in der Shakespeare-Forschung betrifft. „Es haben sich die hervorragendsten Interpreten mit historischen Luftschlössern zufriedengegeben.“ schreibt er am Ende seines Buches. „Aber Wissenschaft ist nicht, was in freundlicher Selbstgefälligkeit sich bodenwurzelnd fortpflanzt. An Irrtümern muß selbst dann nicht festgehalten werden, wenn sie Geschichte gemacht haben.“
Es steht zu hoffen, dass sich diese Einsicht irgendwann durchsetzt. Was dann von einer neuen Shakespeare-Forschung zu erwarten wäre, ist noch gar nicht abzusehen.