Erotische Biographie der Anne Lister

Die Britin Anne Lister (1791-1840) wurde im Zuge der neuen Frauenbewegung in den 1970er als eine Ikone und Vorläuferin entdeckt. Die hochgebildete Dame  und Landbesitzerin führte ein sehr ausschweifendes sexuelles, aber zu gleich romantisches Liebesleben mit Frauen, was Sie in ihrem geheimen Tagebuch ausführlich festhielt. Das Tagebuch, das in einer Geheimsprache verfasst wurde, ist ein Klassiker des Feminismus geworden. Lister machte zwar kein großes Geheimnis aus ihrer Sexualität, aber die Einzelheiten waren wohl doch zu heikel um es in normaler Sprache niederzuschreiben. Im Gegensatz zur männlichen Homosexualität, die in (fast) allen westlichen Staaten der Moderne unter Strafe stand, war lesbische Sexualität nie ein großes Thema für die Gesetzgebung, so dass sie keinen größeren Repressalien ausgesetzt war.  

Basierend auf jenem Tagebuch, welches auch schon für eine BBC-TV-Serie Pate stand, und überlieferten Briefen hat die deutschsprachige Autorin Angela Steidele eine „erotische Biographie“ verfasst. „Anne Listers Tagebücher (… gewannen) im angelsächsischen Raum den Rang eines echten Steins von Rosetta für die weibliche Homosexualität: Nie waren Frauen so prüde, enthaltsam, im Zweifelsfall aber heterosexuell, wie männliche Theoretiker der Weiblichkeit sie im 19. Jahrhundert beschrieben“ schreibt sie über die Bedeutung jener Tagebücher (S. 9), die ihr als Quellenmaterial dienten. Ähnlich argumentiert sie im Nachwort: „Der Genuss des Liebesaktes wiederholte sich im Akte des Schreibens. Sexualität wird Textualität in Anne Listers Tagebüchern, Leib und Leben werden Schrift. Als Begehrende und als Schreibende erschuf sich Anne Lister buchstäblich in ihrem Tagebuch, ihrem verschriftlichen Leib, dem Roman ihres Lebens“ (S. 301). Diese Faszination spürt man auch bei der Lektüre des Romans.

In ihrem Roman verarbeitet sie immer wieder Originalzitate aus den Tagebüchern. „Im Frühjahr 1809 wurde der Briefwechsel zwischen Anne und Eliza unregelmässiger. Der Kuss zwischen Anne und ihrer Klavierschülerin scheint mir nicht folgenlos geblieben zu sein. Zum Verdruss ihres Vaters verbrachte Anne viel Zeit bei Maria Alexander und deren nicht standesgemässer Familie. Ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Beziehung zu Eliza hatte Anne nicht. Nichts ist praktischer und geräumiger als mein Herz. Es lässt neue Eindrücke zu, ohne die alten zu bedrängen oder zu inkommodieren, und alles behält seinen Platz.“ (S. 24), so dass Fiktionalität und Originalaussagen miteinander verschmelzen. Illustriert ist die Biographie mit einer Vielzahl zeitgenössischen Stichen und Reproduktionen von Seiten aus ihrem Tagebuch. Steidele zeichnet ein sehr gefühlvolles Bild jener libertinen und reisefreudigen Dame, die sich über die gesellschaftlichen Regeln und Normen hinwegsetzte und durch ihr Tun zu einer Ikone worde.  


Maurice Schuhmann

Angela Steidele: Anne Lister. Eine erotische Biographie, Matthes & Seitz Verlag Berlin 2017, 328 S., Preis: , ISBN: 978-3-95757-445-9.